Stille ist überall

von Manfred Rosen, Zen-Meister und spiritueller Wegbegleiter in der Nachfolge von Willigis Jäger, Zen-Meister der Zen-Linie „Leere Wolke“

„Stille ist überall“

Das war leicht gesagt in einer Welt, in der ein jeder versuchte, durch lautes Klappern auf sich aufmerksam zu machen und deren Geschäftigkeit und Schnelllebigkeit auch die letzten Oasen der Stille zu besetzen drohte.

In diesem zu Ende gehenden Jahr ist alles anders. Wieder einmal bewahrheitet sich unsere Erfahrung, dass nichts so bleibt wie es ist. Eine Pandemie hat uns dazu gezwungen, fast überall auf der Welt unser gewohntes, geschäftiges Leben anzuhalten. Dies ist ein Segen für unsere strapazierte Mitwelt und auch für uns selbst. Es ist eine Möglichkeit, endlich innezuhalten und sich neu zu orientieren, wenngleich viele von uns sich auch in allerlei Nöte gestürzt sehen, nun ihren Alltag zu organisieren. Die aktuelle Situation ist auch eine gewaltige Bedrohung für Millionen von Menschen, die für unseren Lebensstil gearbeitet haben und deren Existenzminimum nun gefährdet ist. Wiederum andere von uns können die geschenkten stillen Momente gar nicht mehr aushalten und werden überflutet von der Angst um ihr Leben und von vielfältigen Sorgen vor der Zukunft. Wir haben es mit einer realen Bedrohung unserer Gesundheit zu tun und es ist wichtig, dass wir auf allen Ebenen das Nötige tun, uns zu schützen.

Doch können wir unserer grundsätzlichen Sterblichkeit nicht entkommen. Gebannt starren wir auf die täglich neu verkündeten Zahlen von Infektionen und Todesfällen. Verunsicherung und Angst wachsen und viele Möglichkeiten, sich durch die Unterhaltungs- und Freizeitindustrie abzulenken sind weggefallen. Wir werden immer wieder auf uns selbst zurückgeworfen, müssen diese Situation und uns aushalten. Es ist eine Chance, die Stille zu entdecken und sich aus dieser Erfahrung heraus neu zu verorten und zu orientieren, um den wirklichen Herausforderungen unseres Lebens zu begegnen.

Was ist Stille?

Im Grunde ist die Stille der weiteste Raum in uns, in unserem tiefsten Inneren. Sie ist die Quelle von allem. Und sie ist die Quelle unserer Weisheit. Es brauchst nichts anderes. Wenn wir irgendetwas erreichen, erfahren oder verändern wollen, müssen wir nur ihr zuhören.

Viele Menschen konnten dies bereits erfahren und zwar nicht nur, wenn sie sich in spiritueller Übung in einen stillen Raum zurückziehen. Da ist erst einmal hilfreich, um überhaupt das Lauschen und Spüren zu beginnen und Voraussetzung, um etwas über sich selbst zu erfahren, etwas, das über die eigene rein oberflächliche Erscheinung hinausweist. Stille Räume finden wir an vielen Orten: in der Natur, im Wald oder in den Bergen oder auch in unseren Kirchen, Klöstern und spirituellen Zentren. Die mönchischen Traditionen haben nicht von ungefähr ihre Klöster sehr häufig in abgelegenen und einsamen Gegenden errichtet. Dort ist es möglich, weitgehend ungestört ihrem kontemplativen Leben zu folgen. Aber auch diese Orte sind zurzeit größtenteils geschlossen, wie auch von Reisen im Allgemeinen abgeraten wird.

Doch auch in unserem unmittelbaren Wohnumfeld lassen sich Zeiten und Räume finden, in denen es still ist. Die Stille, um die es geht, hat nichts mit der Abwesenheit von Geräuschen zu tun. Es ist eine Stille aus der tiefsten Tiefe, aus einem Grund hinter Allem, einem Grund freilich ohne Boden. Einmal erfahren, begleitet sie uns das ganze Leben lang. Sie hilft uns, die Person zu sein, die wir sind und diese Person nicht zu verlieren, lärmt und tost der Sturm des Alltags auch noch so sehr.

Um Stille zu erfahren, müssen wir uns freimachen von allem, was uns besetzt. Das ist schwer und braucht seine Zeit. Wir müssen aufhören, uns abzulenken oder zu flüchten. Stille ist überall, aber wir müssen lernen, ihr zuzuhören und zwar durch alles störende und laute Rauschen in uns hindurch. Wir müssen lernen, sie erst einmal auszuhalten, denn sie kann uns auch Angst machen. Da, wo es still ist, scheint nichts zu sein. Dieses Nichts bedroht uns und unsere Vorstellungen, die wir von uns selbst haben, unser Selbstbild und unser Gefühl Jemand zu sein. Sich selbst zu verlieren oder gar aufzulösen – das möchte niemand.

Doch fassen wir uns ein Herz, finden wir den Mut, diese Erfahrung auszuhalten, werden wir reich beschenkt. Das, was wir verlieren, das, was wir aufgeben und loslassen müssen, ist nur ein Bild von uns selbst, ist nur eine vorgetäuschte Identität. Das, was wir gewinnen ist ungleich mehr. Wir erfahren den Menschen, der wir tatsächlich sind, der wir schon immer waren, ohne es gewusst zu haben.

„Immer wieder achtsam lauschen,
hinter und als alle Geräusche, Gedanken, Gefühle und Bilder ist sie,
unerschöpflich, immerzu, mein Ursprung und mein Ziel.
Stille ist mein Zuhause.“

 

Manfred Rosen

Wenn wir unsere innere Stille gefunden haben, wird sie immer da sein. Dann kann uns nichts mehr passieren, dann können wir uns jeder Herausforderung stellen. Das heißt nicht, dass man plötzlich allmächtig wird oder leichtsinnig irgendwelchen Abenteuern folgen sollte. Es heißt, dass ich das tue, was zu tun ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Aus der Stille heraus zu handeln macht niemanden perfekt, Fehler machen wir immer noch. Aber sie werden in ihren Auswirkungen wahrscheinlich nicht mehr so schwerwiegend sein.

Stille ist überall, also auch überall zu finden. Stille ist überall und begleitet uns unerkannt immerzu. In jedem Augenblick unseres Lebens können wir sie erfahren.


Beitragskategorien

„Die Schöne und das Biest“ – Sprache und wie wir mit ihr umgehen

„Die Schöne und das Biest“ – Sprache und wie wir mit ihr umgehen

11. Oktober 2024
von Petra Wagner | Wer kennt ihn nicht? Diesen einen Satz – der irgendwann in den frühen Jahren des Lebens so tief in uns hineingefallen ...
Aktuelle Kurse: das Dunkle im Leben annehmen

Aktuelle Kurse: das Dunkle im Leben annehmen

11. Oktober 2024
Kursangebot | Die spirituellen Wege lehren uns die Fähigkeit, auch in "dunklen" Zeiten unseres Lebens präsent, wach und lebendig zu bleiben - auch über ...
Weiter, besser, vollkommener?

Weiter, besser, vollkommener?

13. September 2024
von Marianne Leverenz | Von der ersten Minuten unseres Lebens gehört das Vergleichen gefühlt untrennbar zu unserem Dasein. Nach der Geburt wird noch im Kreißsaal ...