„Angst vor der Zukunft – wie wir mit Krisen in der Welt umgehen und sie akzeptieren können“

von Doris Zölls, Zen-Meisterin der Linie „Leere Wolke“ (Willigis Jäger)

Angesichts der unglaublichen Fülle von Problemen höre ich heute viele ältere Menschen sagen, wie froh sie seien, dass sie aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters die Schwierigkeiten, die auf die Jungen zukommen, nicht mehr erleben müssen. Das sind erschütternde Worte, denn viele der Probleme, mit denen sich die Jüngeren heute konfrontiert sehen, sind nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern sind die Folgen der Handlungen und Entscheidungen der älteren Generation, die sich nun damit zu trösten scheint, dass sie die Folgen nicht mehr erleben muss, weil sie das Feld des Chaos bald verlassen kann.

Solange wir leben, tragen wir Verantwortung – auch im fortgeschrittenen Alter. Auch von uns „Alten“ wird verlangt, dass wir die Konsequenzen bewusst auf uns nehmen. Wir dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken, um das Chaos nicht erleben zu müssen. Wir müssen durch unsere Bewusstwerdung dazu beitragen, dass wir nicht in Resignation verharren. Es nützt nichts, uns in Schuldgefühlen zu verlieren und ständig zu denken: „Hätten wir doch…“

Solche Gedanken machen uns depressiv und handlungsunfähig. Wir müssen aufwachen und die Krise annehmen. Wir lassen die jungen Menschen im Stich, wenn wir das ganze Ausmaß der Probleme ignorieren und gleichzeitig so tun, als läge alles nur an einer falschen Sichtweise. Als könnten wir weiter so unbewusst durch die Welt stapfen, ohne zu merken, welch tiefe Gräben unsere Fußstapfen hinterlassen, die es unseren Nachkommen unmöglich machen, weiter zu gehen. Wir müssen uns den Vorwürfen der jungen Generation stellen, sie als Weckruf verstehen und uns so für Lösungen öffnen.

Augen verschließen

Ich erinnere mich noch gut, wie ich meinen Eltern vorgeworfen habe, warum sie damals das Dritte Reich nicht verhindert haben. All ihre Erklärungen kamen mir wie Ausreden vor, und ich konnte und wollte ihre Begründungen nicht verstehen. Denn wenn sie nur ein bisschen bewusst gewesen wären, wenn sie nur genau hingeschaut hätten, dann hätten sie doch sehen können, was da vor sich geht.

Wenn sie nur ein wenig bewusst gewesen wären.

Wenn wir doch nur ein wenig bewusst gewesen wären! Hätten wir es nicht auch wissen müssen? Waren oder sind wir nicht genauso ahnungslos wie die Generationen vor uns, nur in einem anderen Kontext? Es gab und gibt viele, die auf die Probleme hinweisen. Hören wir sie?

Es scheint tief im Denken des Menschen verankert zu sein, dass er Ursache und Wirkung nicht als gleichzeitig erkennt, sondern nachordnet oder meist ausblendet. Sein Handeln richtet sich nicht nach dem Hier und Jetzt, sondern der Mensch richtet es nach Lust und Laune aus und strebt nach seinem momentanen Gewinn, ohne sich der Folgen seines Handelns bewusst zu sein.

Es ist unser Denken.

Auch wenn die Vergangenheit vorbei ist, ist die Zukunft noch nicht lebendig. Unser Denken wandert ständig von einem zum anderen. Wenn es sich mit der Gegenwart beschäftigt, wird es von dem getrieben, was ihm gefällt oder nicht gefällt. Wirklich in der Gegenwart zu leben, hat damit nichts zu tun.

Jetzt zu leben, heißt nicht, dem zu folgen, wozu uns unsere Triebe und Konditionierungen drängen. Jetzt zu leben heißt, sich dem Leben hinzugeben, ohne ein Warum und Wieso zu kennen. Im Jetzt fallen Ursache und Wirkung zusammen. Im Jetzt sind sie eins. So entfaltet sich ein Handeln, das den Umständen entspricht und nicht einem Ego entspringt, das stets nach seinen Vorteilen strebt.

Da unser Denken ständig von einem „Wenn, dann“ bestimmt ist, blendet es gleichzeitig die Einheit von Ursache und Wirkung aus. Wenn uns aber das Schicksal trifft, suchen wir nach Gründen und sehen unsere gegenwärtige Situation als Folge unserer Handlungen in der Vergangenheit. Das ist reine Interpretation, um die Zusammenhänge des Lebens zu erfassen und ihm einen roten Faden zu geben.

Das Leben lässt sich aber nicht linear definieren, unser Denken kann unser Handeln nicht vorbestimmen, denn unser Handeln geschieht selten bewusst im unmittelbaren Hier und Jetzt, den Umständen entsprechend, sondern wir handeln aus Lust und Laune, getrieben von Gewinn und Verlust. Damit verfehlen wir immer wieder die Herausforderungen, vor die uns das Leben stellt.

Wir können uns nicht wirklich vorstellen, was kommen wird. Das Leben ist unendlich komplex. Wir wissen nicht, welche Faktoren zusammenwirken. Dogen Zenji beschreibt jeden Moment als ein neues Zusammenspiel des Universums.

Schieb alle Betroffenheit beiseite und lass die Myriade Dinge ruhen. Sei achtsam auf das Vergehen der Zeit und übe dich in der Stille, als ginge es um dein Leben

(Dogen Zenji 1200-1253)

 

Es macht daher keinen Sinn, darüber zu spekulieren, was passieren könnte. Um dem Leben gerecht zu werden, um den Umständen entsprechend zu handeln, bedarf es keiner Vorstellungen, keiner Spekulationen. Keine Konzepte, keine Prinzipien, sondern ein bewusstes, unmittelbares Sein, in dem es kein „Ich will aber“ gibt. Es ist ein Sich-Einlassen auf das, was ist, ohne Streben nach Gewinn oder Angst vor Verlust. Das Leben zeigt sich in jedem Augenblick neu. Die Aufgaben kommen auf mich zu, die Lösungen ergeben sich. Es macht einen großen Unterschied für unser Handeln, ob wir das Leben als Herausforderung oder als erdrückendes Problem sehen.

Das Leben zeigt sich immer in Polen, der eine Pol existiert nur, wenn der andere existiert. Wenn ich den einen wegnehme, verschwindet auch der andere. Deshalb gibt es keine Leichtigkeit ohne Schwere, kein Leid ohne Glück. Lasse ich mich auf beide Seiten des Lebens ein, erfahre ich, wie sie sich ständig wandeln, und die Leichtigkeit des Seins erfasst uns.

Unser Leben wird reich. In jedem Augenblick schenkt sich das Leben selbst. Kein Ich kann das leisten, das Ich kann es sich nicht einmal vorstellen. Aber allein dadurch, dass ich mich dem hingebe, was das Leben mir jetzt unter die Füße legt, ergreife ich das Leben, wie es ist und wie es jetzt gelebt werden will.


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