Die Schönheit im Alltäglichen

von Petra Wagner, Lehrerin für Kontemplation am Benediktushof

„Schönheit – Gütigkeit in des Wunders Hier und Jetzt unerwartet Wirklichkeit.“ (Dag Hammerskjöld)
Das für mich Hochinteressante an diesen Worten ist die Verknüpfung von Schönheit und Gütigkeit. Gütigkeit – ein Wort, das in unserem Sprachgebrauch so nicht existiert. Wir kennen und gebrauchen das Wort Güte. Worin liegt der Unterschied? Ist es nicht so, dass Güte sehr viel direkter eine Handlung impliziert und Gütigkeit die Qualität einer inneren Haltung ist, die nicht in eine Handlung münden muss, sondern vielmehr das ganze Wesen erfasst?

Schönheit, die tief in uns fällt, ist eher still. Ein Staunen … eine innere Bewegung,die jede Zelle berührt und keine Distanz, Abwehr oder Vergleichen kennt. In der Wahrnehmung von Schönheit wird es weit und weich. Es bedarf keiner Handlung. Kein Gedanke an Müssen, Sollen, Können, auch nicht an Wollen. Es gibt nichts zu tun und zu machen, es geschieht … einfach so – „in des Wunders Hier und Jetzt“. Nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft ist es möglich, Schönheit zu erkennen, allein in der Gegenwart ist Schönheit anwesend.

Schönheit im Alltäglichen

Das Wesen der Schönheit ist Gegenwärtigkeit und Unvergänglichkeit zugleich. Das Wahrnehmen von Schönheit jedoch ist allein Gegenwärtigkeit. Der Aspekt der Unvergänglichkeit entfaltet sich in der Wirkung auf, in und durch uns. Wenn wir Schönheit nicht nur bruchstückhaft hin und wieder in besonderen Augenblicken wahrnehmen, sondern in uns die Möglichkeit wächst, sie fortwährend zu erfahren und als Wirklichkeit zu erkennen, verändert dies die innere Haltung, und der Raum öffnet sich:

Das Erkennen von Schönheit führt in Offenheit und Weite – Offenheit und Weite erkennt Schönheit als Wirklichkeit.

„Schönheit – Gütigkeit
in des Wunders Hier und Jetzt
unerwartet Wirklichkeit.“

                 (Dag Hammerskjöld)

 

Was genau verhindert in diesen scheinbar geschlossenen Kreis zu kommen, es zu verkörpern? Für mich gibt es zwei Antworten. Zum einen verschleiern Vorstellungen und Ideen von Schönheit unsere Wahrnehmung von ihr. Zum anderen haben wir eine sehr eigentümliche,  besondere Brille auf – ohne es zu bemerken. Sie erinnert mich an die Art von Brille für Kinder mit einem schwächeren Auge, das der Förderung bedarf. Das Glas vor dem stärkeren Auge wird verdunkelt, um das betroffene schwächere Auge zu motivieren stärker zu werden. Es ist eine sinnvolle Unterstützung, um die Sehkraft in die Balance zu bringen. Wir jedoch kehren diesen sinnvollen Prozess der Heilung um, indem wir beharrlich die schwächere Sicht auf die uns im Alltäglichen umgebende Schönheit weiterhin „verdunkeln“ und so den Fokus auf das von uns empfundene „Nichtschöne“ verstärken. Die Logik erkennt die völlige Sinnentleerung der Umkehr dieses Prozesses. Die Emotion macht genau dies – sie kehrt um, indem sie ihre Macht ausübt und uns gefangen hält in einseitig geprägten Bildern.

Tag für Tag geflutet mit tausenden von Bildern, die Unsicherheit, Angst und Schmerz verstärken, behalten wir die Brille mit dem verdunkelten Glas auf und rauben uns die Möglichkeit, die Schönheit im Alltäglichen wahrzunehmen. Sie ist allgegenwärtig – wir sehen sie nicht, ja, sind „blind“ auf diesem Auge und wundern uns, dass wir aus der Balance geraten, wenn wir das stärken, was uns schwächt.

Ist es nicht wunderbar, dass es nur eine Brille ist – eine einseitig verdunkelte Brille, die wir in jedem Augenblick neu absetzen können, wenn wir uns ihrer nur bewusst werden?

Denken und Fühlen werden die Schlüssel nicht sein, die uns das Tor dieser Bewusstwerdung öffnen können. Es ist die Stille, die diese Möglichkeit in sich birgt. Das Lauschen in die Stille… Das Spüren „Wie ist es JETZT?“ kann die Fesseln von Vergangenheit und Zukunft lösen und die Schönheit erkennen. Das Leben ist Bewegung und wir sind Leben, jede Zelle immerwährende Bewegung im Fluss des Lebens. Auch wenn unser Blick, wie eine Art Standbild eingefroren, auf den vermeintlichen Unzulänglichkeiten und Schwierigkeiten des Lebens liegt, birgt sich in uns die Kostbarkeit der Veränderung – auch die konstante Möglichkeit, diese merkwürdige, eingegrenzte Sichtweise abzulegen wie eine Brille.

Schönheit

„Schönheit liegt im Auge des Betrachters“ (Thukydides, um 400 v.Chr.). Jenseits der vielfältigen vorhandenen philosophischen Betrachtungen, möchte ich diese fast zweieinhalbtausend Jahre alten Worte „wörtlich“ nehmen. Im Alltäglichen, nicht in der Vorstellung von irgendwelchen besonderen Ereignissen enttäuscht zu verharren und so den Blick zu trüben und das Blickfeld dramatisch einzuengen, sondern wirklich Tag für Tag (all tag) anwesend zu sein, verändert alles. Schönheit darf sich in unsere offenen Augen legen. Wir sind Betrachtende, Bewegte und Bewegung in Einem.

Brücke

Das Spiel von Licht und Schatten, wenn der Wind die Blätter bewegt. Form und Farbe von allem, was uns umgibt, die Melodie von Worten, Klang von Stimme und Musik, Anmut, ein Lächeln und Lachen. Ein Erkennen im Blick in diesem Augenblick. Schönheit ist. Die Erkenntnis dieser Wirklichkeit kann sich allein vollziehen im:
Jetzt  Hier  Sein.

Autorinnengespräch

Der Austausch und die Reflexion zu spirituellen Themen ist eine hilfreiche Ergänzung zur eigenen Praxis. Das Autorinnengespräch mit Petra Wagner findet am Di., 21.06. um 19:30 Uhr statt – online & kostenfrei via Zoom.

Petra Wagner ist Mitglied der spirituellen Leitung der Kontemplationslinie „Wolke des Nichtwissens“ (Willigis Jäger), Mitglied im Präsidium der West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung, Lehrerin für Kontemplation und Schulung der Wahrnehmung, freischaffende Künstlerin, Ausbildung für Wahrnehmung und Intuition.
www.petra-wagner-kontemplation.de

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