Normalität im Außergewöhnlichen
von Zen-Meister Alexander Poraj, Mitglied des spirituellen Beirats am Benediktushof
Die Wochen vergehen und die Auszeit hört langsam auf eine solche zu sein. So jedenfalls mein Eindruck. Ich beobachte an mir, wie erstaunlich schnell sich mein System an die neuen Umstände gewöhnt. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich mit allem einverstanden bin, mich nicht mehr hier und da aufrege, aber trotzdem: Auch im Außergewöhnlichen kehrt so etwas wie Normalität ein. Geht es Ihnen und Euch auch so?
In diesem Zusammenhang möchte ich gerne auf die Bezeichnung „Normalität“ zu sprechen kommen. Seit Wochen sprechen wir nur noch darüber, wie außergewöhnlich schlimm und schwierig unsere jetzige Zeit ist und wie groß unsere Hoffnung sei, so schnell wie möglich in die Normalität zurückzukehren. Selbstverständlich ist viel Wahres daran. Gleichzeitig jedoch blenden wir mit solchen Wünschen und Aussagen die Tatsache aus, dass uns das Leben vor der Corona-Zeit auch nur sehr bedingt gefallen hat.
Erinnern Sie sich doch bitte daran, wie wenig wir das, was wir hatten und lebten, genossen und wertgeschätzt haben. Wir waren doch fast alle – Ausnahmen bestätigen ja bekanntlich die Regel – damit beschäftigt, etwas zu planen, etwas zu verbessern, zu ändern oder Neues zu erwerben. Mehr noch: Wir haben unser Leben häufig als unruhig, sinnentleert, gehetzt und gestresst empfunden. Viele von uns wollten mehr Zeit für sich, für Familie und für die Partnerschaft haben. Mit anderen Worten: Wir waren vor der Corona-Zeit alles andere als in sich ruhende, gelassene Wesen. Wir haben genauso gejammert, wie wir es heute auch tun, nur die Inhalte unserer Klagen haben sich geändert. Damit will ich an unser zutiefst menschliches Phänomen erinnern, nämlich an die Unzufriedenheit.
Es scheint so einiges dafür zu sprechen, dass unsere Unzufriedenheit sehr gut und unabhängig von allen äußeren Umständen gedeihen kann. Die neuen Corona-Umstände sind ihr deshalb so willkommen, weil sie ihr voraussichtlich für die kommenden Jahre genug Stoff dafür liefern, sich noch besser in sich selbst zu begründen. Dank Corona haben wir wieder einmal mehr als genug „getankt“, um die übliche Unzufriedenheits-Reise fortsetzen zu können.
Was wir als „normal“ bezeichnen, war unsere gewohnte, also die bereits individuell wie auch kollektiv bekannte Unzufriedenheit. Durch Corona wurde unsere übliche Unzufriedenheit gewaltig durcheinandergemischt. Jetzt sind wir plötzlich ganz frisch und neu unzufrieden, womit wir nun wirklich nicht zufrieden sein können und wollen, es sein denn, wir gewöhnen uns daran. So gesehen könnte unsere kontemplative Haltung genau darin bestehen, zu realisieren, dass die Zufriedenheit ein Bewusstseinszustand ist, der von jeder*m, jederzeit und an jedem Ort realisierbar ist, auch wenn die Nörgler in uns dafür Kurzarbeit anmelden muss.
„Ein Mensch, der weiß, dass er genug hat, ist zufrieden und glücklich, selbst, wenn er auf dem Erdboden schläft. Wer nicht weiß, dass er genug hat, dem lässt selbst ein Himmelspalast noch zu wünschen übrig.“
Buddha