Der Schatten der Freude

von Alexander Poraj, Zen-Meister und Mitglied der spirituellen Leitung am Benediktushof

Freude ist doch an sich etwas Wunderbares, oder etwa nicht? Ja, sie ist es, und daran besteht kein Zweifel. Und doch ist sie es nicht ganz, denn im Absolutheitsanspruch der Freude sind ein paar „Aber“ spürbar.

Zunächst ist sie für uns, die Erlebenden, etwas Wundervolles, weil wir inmitten der Freude eine ganzkörperliche, offene und präsente Verkörperung des Lebens erleben, dem gerade nichts fehlt und das sich, weil wir so eins mit ihm sind, eigentlich kaum wirklich beschreiben und wiedergeben lässt. Dem von Freude erfüllten Menschen geht es im Moment der Freude mit großer Wahrscheinlichkeit immer gut bis sehr gut.

Gleichzeitig aber sind wir uns dessen bewusst, häufig im Nachhinein, dass zwar unsere Freude in der Regel authentisch war, die Umstände jedoch, die sie inspirierten, nicht wirklich lustig waren. Ist es manchmal nicht so, dass wir uns zuweilen die Freude verkneifen müssen, wenn wir davon erfahren, dass bestimmten Personen der berufliche Aufstieg versagt blieb, die Beziehung gescheitert oder ein anderes Vorhaben missglückte?

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Also lautet die Frage: Wie kommt es dazu, dass wir uns Freude und Lachen kaum verkneifen können, und das gerade dann, wenn einer bestimmten Person etwas Unangenehmes passiert oder nicht gelingt? Und Hand aufs Herz: Wer kennt diese heimliche, jedoch so authentische Freude nicht aus eigener Erfahrung?

Die deutsche Sprache hat dafür mal wieder ein passendes Wort, es lautet: Schadenfreude. Was ist nun das Besondere an der Schadenfreude? Warum tritt sie relativ häufig auf, wenn sie in der Regel unterdrückt wird – es sei denn, sie kann und darf kollektiv zum Ausdruck gebracht werden, beispielsweise bei einem Sportereignis, wenn der Gegner einen Fehler macht, der „unsere“ Mannschaft begünstigt?

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In meiner Erfahrung sieht die Erklärung der Schadenfreude wie folgt aus: Der eigentliche Grund für meine Schaden-des-Anderen-Freude liegt nur bedingt bei der anderen Person. In Wirklichkeit sitzt die Ursache in mir. Mehr noch: Sie ist sogar sehr genau darauf abgestimmt, was ich eigentlich möchte und was mir in meinem Leben wichtig bis sehr wichtig ist und – das ist der allerwichtigste Grund -, was ich mich nicht traue zu tun oder wo ich, trotz so manchem Versuch, schlichtweg gescheitert bin, einfach weil ich nicht gut genug bin.

In der Praxis sieht es dann beispielsweise so aus: Wäre ich sehr gerne ein erfolgreicher Geschäftsmann, was aber entweder nicht klappte oder woran ich mich noch nicht mal traute, weil mir das Risiko der Selbständigkeit zu groß war, so kann ich mir kaum die Freude verkneifen, wenn ich erfahre, dass jemand aus meinem Umkreis, den ich ansonsten schätze, es eben sowenig geschafft hat wie ich.

Ich freue mich dann darüber, dass es sich bei mir vielleicht gar nicht ums Zögern, Angst oder Feigheit gehandelt hat, sondern um ein berechtigtes Abwarten. Und selbst wenn, dann sind die anderen nicht nur nicht besser, sondern naiver, weil sie es trotzdem versucht haben und Dummheit muss ja betraft werden. Das wäre die erste Variante.

„Wenn man erfolgreich ist, dann überschlagen sich die Freunde,

aber erst wenn man einen Misserfolg hat, dann freuen sie sich wirklich.“

(Harry Truman)

 

Die zweite Variante ist etwas gemeiner, deswegen aber noch mehr verbreitet. Und sie geht so: Ich freue mich über das Scheitern einer anderen Person, weil dadurch klar wird, dass sie auch nicht besser, begabter, klüger ist oder einfach mehr Glück hatte als ich. Sie ist genauso wie ich, ich fühle mich dadurch nicht in Frage gestellt, sondern, im Gegenteil, in meinem Selbstbild bestätigt – und wenn das kein Grund zu Freude ist …

Schadenfreude ist damit der unmittelbare Ausdruck der Erleichterung, die ich dann erfahre, wenn die Komfortzone meiner Gewohnheiten und der dazugehörigen Erklärungen nicht in Frage gestellt werden. Noch anders ausgedrückt: ich freue mich jedes Mal darüber, wenn es keinem wirklich besser geht als mir, und zwar deswegen, weil ich dann gezwungen wäre mehr Verantwortung für das, was ich tue, fühle und erlebe, zu übernehmen. Das wiederum ist mit Arbeit, Risiko, Mut, Ungewissheit, Fleiß, Geduld und vielem mehr verbunden. Und wer will das schon wirklich?

Klar, die Ergebnisse interessieren uns brennend. Aber der Weg dahin? Dieser interessiert uns weitaus weniger bis gar nicht, vor allem dann, wenn er mit Ungewissheiten einhergeht. Denn wenn jemand das eine oder andere von uns insgeheim erhoffte Erlebnis doch noch erreichen würde, dann wäre uns schlagartig klar, dass es doch geht und wir den schwarzen Peter in der Hand haben und mit ihm erhebliche Probleme mit unserem allerliebsten Selbstbild.

Was hat das Ganze mit Zen zu tun? Sehr viel. Denn Zen ist Gegenwart und Gegenwart ist Leben. Und Leben will gelebt werden. Erinnern wir uns bitte an das Gleichnis Jesu. Darin berichtet er von einem reichen Besitzer, der unterschiedlichste Talente verteilt hat.  Nach seiner Rückkehr ließ er die Beschenkten darüber berichten, was sie mit ihnen gemacht haben. Viele haben sie „vermehrt“. Es gab aber auch welche, die sie aus Angst vergraben haben. Wie das unerfreuliche Ende für die Angsthasen ausgeht, kann bei Mt. 25, 14-30 nachgelesen werden.

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Ob uns wirklich jemand dafür „bestraft“ oder bestrafen wird, dass wir Dank unterschiedlichster Rechtfertigungsversuche das Leben nicht erleben wollen, sei nun mal dahingestellt. Fakt ist aber, dass die allzu häufige Verweigerung dessen, was unmittelbar gelebt werden will, Strafe genug ist. Denn es gibt nur das, was es gibt und genauso wie es ist und zwar jetzt. Wir tun oder wir lassen es. Und wie es wird, werden wir erst dann erfahren, wenn wir es getan oder gelassen haben. Mit anderen Worten: Wir können das Leben vorab weder wirklich abschätzen, verstehen und schon gar nicht haben. Wir sind zum Leben und Erleben bestimmt. Einzeln und in Gemeinschaften. Und je mehr wir das Leben leben, desto mehr lachen wir mit denen, die lachen, und weinen mit denen, die weinen, weil wir aus erster Hand wissen, wie es ist zu leben.

Euer Alexander

Autorengespräch

Das Autorengespräch mit Alexander Poraj fand am Mittwoch, 24. Mai, um 19:30 Uhr statt – online & kostenfrei via Zoom.

Alexander Poraj ist Diplom-Theologe und Zen-Meister der Zen-Linie „Leere Wolke“ (Willigis Jäger), er ist Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes und des Präsidiums der West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung. Er ist Mitbegründer der Stiftungen West-Östliche Weisheit in Spanien und Polen sowie der Institute für persönliche Entwicklung „Euphonia“ in Barcelona und Breslau.

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