Worüber ich mich (dennoch) freue

von Daniel Rothe, Lehrer der Kontemplationslinie Wolke des Nichtwissens und Mitglied des spirituellen Beirats am Benediktushof

Unsere Welt ist wie sie ist. Fast eine Milliarde Menschen sind schwerst unterernährt. Nach UNO-Angaben ist diese Zahl in den letzten Jahren sogar wieder gestiegen. Und durch Covid-19 wird die Ernährungskrise auch weiter zunehmen. Das ist kein Ausnahmezustand. Das ist der Normalzustand. Auch Kriege, Flüchtlingscamps, Gewalt gegen Minderheiten, Frauen und Kinder gehören zum Normalzustand. Dennoch ist das aber alles nur ein Teil des Normalzustandes.

Denn normal ist auch, dass wir in wechselseitiger Empathie leben. Diese Einsicht gerät aber bisweilen in Vergessenheit. Oder sie wird im Vergleich mit den Krisensituationen mitunter als belanglos abgetan.

Seit ich vor einigen Tagen von einem Projekt gehört habe, das Studierende in Deutschland kürzlich auf die Beine gestellt haben, freue ich mich über dieses Engagement: Aufgrund der Unterrichtssituation für Schüler*innen in Zeiten von Corona haben vor allem Mathematikstudierende eine Lernplattform gegründet. In einem Video-Chat unterstützen Studierende Schüler*innen zu Hause in der jetzigen Lernsituation – kostenlos.

Das ist nur ein Beispiel für altruistisches Verhalten. In jedem Alltag kann sich Empathie zeigen: ein freundlicher Blick, ein Türaufhalten, ein Platzanbieten in der Bahn. Die Aufzählung ließe sich fortführen. Auch das ist der Normalzustand. So ist unsere Welt auch.

Ob jedoch unser ganzes Engagement angesichts des weltweiten Leides und der vielen Krisen Sinn macht? Ob es zu strukturellen Veränderungen führt? Ich weiß es nicht.

Mich motiviert aber ein Wort der Ärztin und Ordensfrau Ruth Pfau († 2017). In jahrelangem Engagement hat sie es mit einem großen Team und Netzwerk in Pakistan geschafft, im Kampf gegen die Lepra-Erkrankung entscheidende Erfolge zu erzielen. Im Interview antwortete sie auf die Frage, ob ihr Engagement angesichts der weltweiten Probleme überhaupt Sinn mache, sehr nüchtern, aber hoffnungsvoll: „Vielleicht ist es unsinnig, etwas zu tun. Aber nichts zu tun, wäre noch unsinniger.“

Warum sollte nicht altruistische Liebe, Mitgefühl oder wie immer wir es nennen, das letzte Wort haben? Das als Normalzustand in den Blick zu nehmen, kann zu einer realistischeren Weltsicht führen. Und es kann zu einer angemesseneren Haltung gegenüber der Mitwelt führen – auch in Zeiten eines Ausnahmezustandes.


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Daniel Rothe

katholischer Theologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionsphilosophie und -wissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Promotion zum Thema "Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht. Metaphorik und religiöses Erleben im 21. Jahrhundert", Kontemplationslehrer und Mitglied im Vorstand der Kontemplationslinie "Wolke des Nichtwissens" (Willigis Jäger). www.jetztundhier-bensheim.de