Das stille Herz – Herzensweisheit

von Zen-Meisterin Doris Zölls, Mitglied des spirituellen Beirats am Benediktushof

Wir leben im Moment in einer im wahrsten Sinne verrückten Zeit. Vieles, was wir so selbstverständlich lebten, ist heute auf den Kopf gestellt. Gerade in der unvoreingenommenen Begegnung mit Mitmenschen sind wir sehr eingeschränkt. Dies ruft großen Widerstand hervor. Die Vereinsamung wird als schlimmer empfunden, als eine eventuelle Erkrankung. Ersteres spüren wir jetzt unmittelbar, letzteres, eine Erkrankung an dem Virus, können wir uns gerade nicht vorstellen, da wir entweder ihn selbst nicht haben, oder er auch nicht durch einen nahen Menschen in unser Jetzt getreten ist. Wir machen uns zwar unglaublich viele Sorgen über die Zukunft, was alles eintreten könnte, doch sie sind immer aus dem Jetzt heraus bestimmt. Was unser Handeln im Jetzt jedoch für Konsequenzen haben könnte, ist für uns nicht real und wir klammern die Folgen aus.

„Weisheit kann Angst nicht bannen, Angst jedoch kann Weisheit bannen.“

aus der Bhagavadgîtâ

Auch wenn wir z. B. wissen, wie problematisch rauchen für unsere Gesundheit sein kann, können wir die Folgen für unser individuelles Leben ignorieren und so leben, als ob es uns nicht betreffe. Das gilt für alles. Wir spüren meistens nur das Jetzt isoliert von allem und sehen die wechselseitigen Abhängigkeiten, mit denen das Jetzt immer gleichzeitig verknüpft ist, nicht oder oft nur bruchstückhaft. Auch wenn wir viel wissen, kann dieses Wissen diese Struktur nur bedingt auflösen. Es braucht eine andere Dimension, die uns das Jetzt mit all seinen Abhängigkeiten erfahren lässt, damit wir auch einen weiteren Blick auf unser Sosein haben und sie uns zu einer anderen Haltung führen kann. Im Zen wird sie als die Herzensweisheit bezeichnet, die sich dadurch eröffnet, dass wir nicht nur mit dem Intellekt auf die Dinge schauen, aber auch nicht nur aus dem Bauchgefühl heraus, denn dieses ist nur die Summe unserer menschlichen Erfahrungen und damit auch sehr stark konditioniert. Die Herzensweisheit ist eine Dimension unseres Geistes, die unser geprägtes Denken, Fühlen und Handeln übersteigt. Sie tritt dort auf, wo wir aus den gewohnten Urteilen und Bewertungen heraustreten und das Leben in all seinen Facetten ohne Kommentar und Urteil auf uns wirken lassen. Damit wird unser Sein nicht neutral, nicht farblos, im Gegenteil. Die Dinge entfalten jetzt erst ihr wahres Sosein. Wir erleben, dass sie eingebettet sind in ein großes Ganzes. Auf einmal sehen wir ihre Abhängigkeiten mit allem. Uns wird eine Sicht eröffnet, die weiter ist als unser konditioniertes Denken und Fühlen. Zen nennt diese offene Weitsicht Weisheit. Sie verankert diese nicht im Kopf, auch nicht im Bauch, sondern sieht das Herz als Mitte beider Pole. Wird unser Herz nicht durch Ablehnung und Vorliebe in Erregung gesetzt, entfaltet sich das stille Herz, eröffnet sich Weisheit. Sie empfinden wir als großes Mitgefühl, denn nichts steht sich mehr gegenüber, nichts schließt sich mehr gegenseitig aus. Alles ist mit einander verwoben, alles steht miteinander in Beziehung und hat da seinen Platz und seine Zeit.

Ich möchte Ihnen Mut machen, diese Weisheit in sich zu entfalten. Lassen Sie unsere Herzen still werden, damit wir die Wirklichkeit sehen, wie sie wirklich ist. Verstehen wir die Welt aus unserer begrenzten Sicht, führt dies zu einem nicht fruchtbaren Handeln.  Zu all dem Schweren fügen wir noch Leiden hinzu. Wut und Hass zeigen, dass wir auf dem Irrweg sind, Mitgefühl jedoch ist der Garant, dass unsere Weltsicht weit und offen ist. Herzensweisheit ist erlebbares Mitgefühl,  sie birgt in sich Gleichmut und nicht die Hitzigkeit unserer Emotionen. Ich wünsche Ihnen viel Geduld und Gelassenheit in der Begegnung mit der Welt und den Mut und die Kraft, in die Stille zu gehen, in der sich die Herzensweisheit am deutlichsten ausprägen kann.


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Doris Zölls

Evangelische Theologin, Zen-Meisterin der Zen-Linie "Leere Wolke" (Willigis Jäger), Mitglied im Präsidium der West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung. www.alltagszen.de
 
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