Lass mich in Ruhe. Bitte!

von Zen-Meister Alexander Poraj, Mitglied des spirituellen Beirats am Benediktushof

Pfingsten war ich mit meiner Tochter Wandern. Wir übernachteten in einem kleinen Gasthof und kamen, wie üblich in solchen Häusern, mit dem Besitzer ins Gespräch. Er freute sich, dass es wieder „losgeht“, da er doch einige Kosten zu stemmen hatte, die er sich so nicht allzu lange hätte leisten können. Auch ich erzählte von unseren Befürchtungen, die, wie fast überall zu hören, doch sehr ähnlich sind. Plötzlich aber hielt unser Gastgeber inne, schaute sich kurz um, und fügte mit etwas gedämpfter Stimme hinzu: „Noch nie hatte ich so viel Lebensqualität erlebt wie in diesen Wochen. Und wären nicht die Rechnungen und meine eigenen Hochrechnungen, so wäre diese Zeit ein Geschenk Gottes gewesen. Ich weiß nicht, wann ich als Erwachsener solch eine genussvolle Zeit hatte und ich weiß nicht, wann ich in den Genuss komme, so etwas erneut erleben zu dürfen.“

Ging es manchen von Ihnen genauso? Allen Sorgen zum Trotz, die uns sicherlich noch lange begleiten werden, hatten Sie nicht auch Momente, Stunden oder ganze Tage, wo Sie einfach nur da waren? Niemand wollte was von Ihnen. Die Mails wurden rarer. Das Handy schwieg über längere Phasen. Sie konnten feststellen, dass einige Einkäufe, Pläne, unverrückbare Termine und Angelegenheiten doch nicht so lebensnotwendig waren, wie sie es vorgegeben haben zu sein? Damit meine ich vor allem, dass es uns langsam und widerwillig gedämmert ist, dass wir dafür die Verantwortung tragen, uns das Leben nicht nur schwer zu machen, sondern zum Teil sogar unerträglich. Ist das nicht komisch? Ja tragikomisch? Das ist es. Mehr noch: Wir stehen erneut in den Startlöchern, mit dieser gegenseitigen Quälerei fortzufahren, als wäre sie das Beste und Tollste, was es zu tun gäbe. Ist das nicht noch komischer? Ja tragikomischer?

Ich weiß, dass wir uns gerne alles Mögliche schönreden. Darum geht es mir aber nicht. Was mir ein wenig am Herzen liegt, ist die Unterscheidung der Geister, die wir gerade haben erfahren können. Wir konnten genauer und länger schmecken, was wir wirklich brauchen und was nicht. Wir konnten genauer spüren, wie es mit unserer Stabilität bestellt ist, wo unsere Ängste liegen und wie wir normalerweise mit ihnen umgehen. Wir konnten unser Alleinsein erforschen oder aber unsere Partnerschaften in Facetten erleben, die wir schon längst vergessen oder auch verdrängt haben. Mit anderen Worten: Wir konnten beginnen zu sehen und zwar länger und genauer. Das ist schon sehr viel.

Die Stille ist ein erbarmungsloser Spiegel. Je länger sie andauert, umso mehr kommt zum Vorschein. Häufig ist es so, dass wir wegschauen müssen. Aber manchmal halten wir ihr stand. Die Corona-Zeit war vielleicht solch eine Herausforderung. Nehmen wir sie an, dann beginnt nach anfänglicher Abwehr etwas in uns stiller zu werden und Ruhe kehrt ein. Die Stille fordert von uns Ruhe und lässt nicht locker, bis es ihr gelingt. Es ist aber kein übliches in Ruhe lassen, in das wir uns normalerweise hineinflüchten. Die von der Stille inspirierte Ruhe ist eher offen, leer und doch ganz da. Wir erleben sie als Geschenk, weil wir sie nicht machen können. Wir können sie zulassen, indem wir damit aufhören, vor der Stille zu fliehen, denn auf sie reagieren wir häufig mit Un-Ruhe, was mehr als seltsam ist. Bleiben wir aber länger da und das auch dann, wenn die Stille uns ihren erbarmungslosen Spiegel vorhält, dann werden wir eins mit ihr und damit wirklich ruhig.

Was dann kommt und geht wird einfach erträglicher, weil nicht wir es sind, die es tragen, sondern sie, die stille Ruhe in Allem, in der wir immer schon beheimatet sind, auch dann, wenn wir sie auf den ersten und zweiten Blick nicht wiedererkennen. Spiritualität ist halt häufig die Liebe auf den dritten Blick.

Alexander Poraj

katholischer Diplom-Theologe, Schwerpunkt Religionswissenschaften, Promotion zum Thema: „Der Begriff der Ich-Struktur in der Mystik Meister Eckeharts und im Zen-Buddhismus“. Er ist Zen-Meister der Linie "Leere Wolke" (Willigis Jäger) und von Willigis Jäger ernannter Kontemplationslehrer. Er war u. a. Geschäftsführer der Oberbergkliniken, Mitbegründer der Stiftungen West-Östliche Weisheit in Spanien und Polen sowie der Institute für persönliche Entwicklung "Euphonia" in Barcelona und Breslau. Er ist Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes, Mitglied des Präsidiums der West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung und Geschäftsführer der Dr. Poraj & Partner GmbH in Zürich. www.alexanderporaj.de, www.drporaj.ch
 
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