Die Kraft der Gedanken und Gefühle

von Daniel Rothe, Lehrer der Kontemplationslinie Wolke des Nichtwissens und Mitglied des spirituellen Beirats am Benediktushof

Schön behaglich und relaxed im Sessel zu sitzen, ist prinzipiell nichts Schlechtes, ganz im Gegenteil. Wenn aber – im Bild gesprochen – das eigene Leben quasi ausschließlich in dieser Haltung stattfände, wäre das schade. Denn Leben könnte lebendiger sein als nur abzuwarten oder frustriert im „Sessel“ abzuhängen.

Genauso ist es überhaupt nicht schlecht, sich durchaus leidenschaftlich gesellschaftlich oder familiär zu engagieren. Wenn aber das eigene Leben ausschließlich darauf abzielen würde, die Welt retten oder wenigstens verbessern zu müssen, wäre auch das schade. Auch in diesem Fall könnte Leben mehr sein als immer nur machen zu müssen. Zudem: Wer so lebt, überschätzt seine Selbstwirksamkeit womöglich.

Derartige Szenarien, mit denen man sich selbst und seiner Mitwelt das Leben verhagelt, existieren in unzähliger Menge. Was ihnen aber allen gemeinsam ist: Sie basieren jeweils auf einer bestimmten Grundeinstellung. Diese entwickelt sich im Laufe des Lebens. Sie zeigt sich in Sätzen, die, wie von einem inneren Stichwortgeber ausgesprochen, das Denken, Fühlen und Handeln bestimmen.

Im Falle des ersten Szenarios wären das Sätze wie: Ich kann nicht. Ich habe keine Lust. Ich habe Angst. Im Falle des zweiten Szenarios wären das Sätze wie: Ich muss helfen. Ich werde gebraucht. Ohne mich läuft nichts.
Mancher und manchem sind diese Sätze bewusst. Andere wiederum kennen die Sätze ihres inneren Stichwortgebers nicht. Aber die jeweiligen Sätze bestimmen das Leben in nicht unerheblichem Maße.

Was also tun, wenn man diese Strategien als wenig hilfreich erlebt und genug von ihnen hat?

Ein Zaubermittel gibt es nicht und spirituelle Heilsversprechen helfen auch nicht weiter, wie die Erfahrung zeigt. Dennoch gibt es Möglichkeiten, in dieser Situation nicht verzweifeln zu müssen.

Man könnte etwa bei der Erfahrung und Praxis von Männern und Frauen ansetzen, die im vierten Jahrhundert die Zivilisation verließen und in der Wüste Ägyptens und Syriens ein neues Leben begannen. In dieser Situation, in der äußere Reize äußert gering waren, zeigte sich das Erleben in ihrem eigenen Inneren umso deutlicher. Indem sie auf die Stille hörten, erfuhren sie zugleich, welche Kraft die eigenen Gedanken und Gefühle besitzen. Und vor allem, welche Rolle diese Gedanken und Gefühle dabei spielen, das herzustellen, was sie als die Realität erfuhren.

Daher war neben ihrer Arbeit und dem Sitzen in der Stille das Beobachten der Gedanken und Gefühle für sie eine zentrale Übung. Und über das Beobachten hinaus arbeiteten sie individuell und kreativ mit diesen Gedanken und Gefühlen. Denn sich auf diesen Prozess des Gedanken- und Gefühlsmanagements einzulassen, erfuhren diese Aussteiger*innen als heilsam für sich und ihre Mitwelt. Für den westlichen Kulturraum des 21. Jahrhunderts mit seiner extremen Außenorientierung wäre es eine Chance, sich an diese Pionierarbeit zu erinnern. Vielleicht könnte diese konkrete Praxis des Beobachtens der gedanklichen und emotionalen Bewusstseinsvorgänge eine heilsame Strategie darstellen?

„ Das Wichtigste passiert in unseren stillen Stunden. “

Willigis Jäger

Heute könnte der erste Tag sein, diese Praxis wiederaufzunehmen oder zu beginnen. Neben der Tagesschau im TV ins Äußere könnte das eine Tagesschau nach innen sein.
Effektiv ist es, eine solche Tagesschau täglich zu praktizieren. Im ersten Schritt könnte man seinen Tag vor dem geistigen Auge Revue passieren lassen, und zwar ohne zu bewerten. Im zweiten Schritt könnte man schauen, welche Gedanken und Gefühle in welchen Situationen aufgetaucht sind. Dabei kann es sich als hilfreich erweisen, zu schauen, wofür man dankbar sein kann, und was sich als problematisch erweist. Über längere Zeit können sich hier nun wiederkehrende Muster zeigen. Vielleicht braucht es dann einen Impuls von außen, vielleicht taucht auch eine Idee für eine konkrete Übung im eigenen Inneren auf.

Dieser Impuls verändert wahrscheinlich nicht das ganze Leben. Aber das erwartet auch niemand, der ins Fitnessstudio geht. Fitnessprogramme können jedoch heilsam sein und das Leben lebendiger machen. Vielleicht kann das auch diese Übung?


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Daniel Rothe

katholischer Theologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionsphilosophie und -wissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Promotion zum Thema "Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht. Metaphorik und religiöses Erleben im 21. Jahrhundert", Kontemplationslehrer und Mitglied im Vorstand der Kontemplationslinie "Wolke des Nichtwissens" (Willigis Jäger). www.jetztundhier-bensheim.de