Buchtipp: Michael Hampe „Die Wildnis, die Seele, das Nichts“

von Alexander Poraj,  Zen-Meister und Mitglied des spirituellen Beirats des Benediktushofes

Unsere diesjährige Weihnachtszeit wird sich aufgrund der zahlreichen Restriktionen höchstwahrscheinlich etwas anders gestalten als gewohnt. Vor allem wird sie für viele von uns mit weniger Besuchen und Reisen einhergehen müssen. Das ist die schlechte Nachricht.
Die gute aber könnte sein: Wir haben mehr Zeit, mehr Ruhe und Muße.

Deswegen erlaube ich mir, Euch ein Buch vorzustellen, welches genau dies einfordert – Zeit und Muße, denn es will nicht unbedingt in einem Zug gelesen werden.

„Die Wildnis, die Seele, das Nichts“ von Michael Hampe

Der Roman des Philosophen Michael Hampe „Die Wildnis, die Seele, das Nichts: Über das wirkliche Leben“ erfüllt auf den ersten Blick alle Kriterien einer etwas in Vergessenheit geratenen Gattung, der des philosophischen Romans.

Auf den ersten Blick bedeutet dies, dass die Handlung eher in den Hintergrund tritt, während die in diversen Dialogen und Monologen enthaltenen Überlegungen den ersten Rang einnehmen.

Und diese haben es in sich, da sie einer ganzen Reihe wichtiger und immer noch ungelöster „Gretchen Fragen“ der Menschheit nachgehen.

Spirituell-existenzielle Fragen werden ebenso schicksalhaft betrachtet wie der Wunsch nach einem lustvoll-zelebrierten, intellektuellen Dasein inszeniert wird, welches ebenso abrupt endet, wie die Schicksale aller Hauptakteure des Buches. Am Ende müssen die „Grechten Fragen“ offenbleiben, zumal der kluge KI-Roboter, der der einzige Überlebender sein könnte, so sich jemand fände, der ihn wieder einschaltet.

Aber was heißt schon Leben und Überleben?

Diese Fragen und deren Erörterungen werden auf unterschiedliche Personen verteilt und spielen auf mehreren Zeitebenen, wodurch es auch einem weniger philosophisch geschultem Leser leichtfällt, diese Fragen am Leben der Figuren entlang zu verfolgen. Mehr noch: Die geschickte Wahl der Akteure, welche auch bereits weiter vorne genannten dezenten und durchaus klugen KI-Roboter beinhaltet, verleiht den komplexen Inhalten eine Verankerung in der Gegenwart und der uns vermutlich zu erwartenden Zukunft, ohne dabei allzu spekulativ zu wirken. Aller Weisheit zum Trotz ¬ und hier tritt die Handlung erneut dezent jedoch unaufhaltsam in den Vordergrund – scheitern alle Figuren des Romans an der Unmittelbarkeit des Lebens selbst. Mehr noch: Mir stellte sich die Frage, ob wir mit all unseren Überlegungen – die vermeintlich weisen, spirituellen miteingeschlossen, nicht doch ein eigenes Leben kreieren und simulieren, so dass wir, natürlich unbemerkt und ungewollt, die meiste Zeit „daneben“ liegen?

Denn, ist das Leben ein Traum, dann ist jedes Argument dafür oder dagegen auch nur ein Geträumtes…

Ich wünsche Euch eine bereichernde Lektüre und vielleicht kommen wir bei der nächstmöglichen Gelegenheit darüber ins Gespräch.

Euer
Alexander Poraj


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Alexander Poraj

katholischer Diplom-Theologe, Schwerpunkt Religionswissenschaften, Promotion zum Thema: „Der Begriff der Ich-Struktur in der Mystik Meister Eckeharts und im Zen-Buddhismus“. Er ist Zen-Meister der Linie "Leere Wolke" (Willigis Jäger) und von Willigis Jäger ernannter Kontemplationslehrer. Er war u. a. Geschäftsführer der Oberbergkliniken, Mitbegründer der Stiftungen West-Östliche Weisheit in Spanien und Polen sowie der Institute für persönliche Entwicklung "Euphonia" in Barcelona und Breslau. Er ist Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes, Mitglied des Präsidiums der West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung und Geschäftsführer der Dr. Poraj & Partner GmbH in Zürich. www.alexanderporaj.de, www.drporaj.ch
 
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