Leben und aufatmen

von Daniel Rothe, Lehrer der Kontemplationslinie Wolke des Nichtwissens und Mitglied des spirituellen Beirats am Benediktushof

Zum Leben braucht es Mut, ein klein wenig zumindest. Aber nicht mehr als man für den nächsten Atemzug braucht. Das gilt während der Corona-Pandemie nicht weniger als zu sonstigen Zeiten. Es klingt natürlich banal. Und das ist es auch. Aber dieses kleine bisschen Mut kann einen großen Stein ins Rollen bringen.

Wie das gehen kann?

Mir wird das klar, wenn ich auf den Mann aus Nazaret blicke. Seine Message lautet im Griechischen in den ersten drei Büchern des Neuen Testaments schlicht: metanoein und pisteuo. Beide Begriffe besitzen eine große Bedeutungsvielfalt. In 2000 Jahren ist aus diesem Programm allerdings äußerst Fragwürdiges und Abstruses entstanden. So ist metanoein zu einem moralischen Buß- und Umkehrprogramm verkommen, das suggeriert, Menschen müssen sich in moralischer Hinsicht bessern.

Dem Begriff pisteuo ist es nicht besser ergangen. In seiner Übersetzung als „Glauben“ bedeutet er vielfach das „Fürwahrhalten“ von bestimmten Konzepten und Überzeugungen. Gemeint ist damit eine Welterklärung, die im Zeitalter von Wissenschaft und Technik keinen Bestand mehr hat.

Hinter den Begriffen metanoein und pisteuo verbirgt sich aber noch eine ganz andere Möglichkeit des Verstehens. Im antiken Sprachempfinden schwingt bei metanoein nämlich die Bedeutung von „größer dimensioniert als gewöhnlich angenommen“ mit. Und pisteuo meint primär „vertrauen“.

Der Appell des Mannes aus Nazaret lautet dann übertragen so: Vertraue deinem Erleben und deinen Erfahrungen. Wenn du wahrnimmst, dass das Leben mehr ist als du zu denken und fühlen vermagst, dann vertraue doch diesem deinem Erleben. Vertraue nicht nur deiner Ohnmacht, deiner Angst und deinen Sorgen. Nimm auch deine Lebenskraft ernst, die du ebenfalls erlebst.

Es geht nicht darum, die Augen zu verschließen vor den eigenen und gesellschaftlichen Problemen. Es geht nicht darum, die Dramatik der gegenwärtigen Situation zu leugnen. Um was es aber geht, ist die ganz persönliche Haltung. Es ist die persönliche Einstellung zu mir selbst, zu meiner Mitwelt und meinem Leben. Manche mögen es auch spirituelle oder religiöse Einstellung nennen.

Haltungen entstehen im Laufe des Lebens. Sie sind nichts Statisches, sondern sie ändern sich auch. Aber sie beeinflussen, wie jemand denkt und fühlt, wofür er oder sie sich einsetzt oder was jemanden kalt lässt. Darum ist es auch nicht egal, wie die jeweilige innere Haltung aussieht.

Eine Haltungsänderung kann man nicht einfach so machen. Aber zulassen kann man sie. Sie geschieht. Denn Haltungen entstehen aus dem persönlichen Erleben und Erfahren. Wer sich daher seinen Erfahrungen von mehr als allem Denken und Fühlen und dem Erleben von größer dimensioniert als alles nicht verschließt, wer nicht nur seiner Macht oder Ohnmacht, sondern auch dieser Lebenskraft vertraut, dessen Haltung wird sich verändern. So kann man dann nicht nur überleben, sondern lebendig leben und aufatmen.

Daniel Rothe

katholischer Theologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionsphilosophie und -wissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Promotion zum Thema "Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht. Metaphorik und religiöses Erleben im 21. Jahrhundert", Kontemplationslehrer und Mitglied im Vorstand der Kontemplationslinie "Wolke des Nichtwissens" (Willigis Jäger). www.jetztundhier-bensheim.de