Richten als Impuls

von Zen-Meister Alexander Poraj, Mitglied des spirituellen Beirats am Benediktushof

Auf die Beiträge in unserem Newsletter bekommen wir viele Rückmeldungen. Das freut uns natürlich sehr. Wie Ihr Euch denken könnt, sind einige Rückmeldungen kritisch und, wie zum Ausgleich, ein paar voller Begeisterung. Zahlenmäßig halten sie sich in etwa die Waage. Ich nehme dies heute als Anlass für eine kleine Reflexion:

Seit einigen Jahren schon gibt es in unserer Gesellschaft die Tendenz, ehrlich und authentisch zu sein. Das klingt zunächst einmal sehr positiv und führt dazu, dass wir versuchen, uns im Alltag ehrlich und authentisch zu geben. Auch das klingt immer noch positiv und lebenswert, nur, wie zeigt es sich in der gelebten Praxis? Die Antwort darauf scheint ebenfalls selbstverständlich zu sein und lautet in etwa: Ich sage und verhalte mich genauso, wie es meiner jetzigen Verfassung entspricht. Und auch diese Aussage wird weitestgehend akzeptiert. Wo liegt also das Problem, falls in diesem Zusammenhang überhaupt eines auftaucht?

Ein mögliches Problem liegt darin, dass wir unsere jeweilige momentane Verfassung als den Maßstab schlechthin für die Kommunikation oder eine Handlung nehmen. Das ist zwar verständlich, jedoch nicht immer von Vorteil und zwar nicht nur für uns selbst, sondern auch für unser Gegenüber oder die Sache selbst. So antworten wir oftmals sofort und voller Begeisterung auf einen Artikel, Vortrag oder eine Sendung, weil wir uns in unseren Gedanken oder Gefühlen bestätigt fühlen. Das allein aber sagt noch nichts darüber aus, ob die Sachlage wirklich gut genug beschrieben, recherchiert oder wiedergegeben worden ist.

Das Gleiche gilt natürlich im Falle einer Ablehnung, vor allem dann, wenn sie etwas stärker ausfällt, weil sie dann mit großer Wahrscheinlichkeit auf unserer Wut basiert. Und auch hier gilt das ähnliche Prinzip wie bei der Bejahung: In beiden Fällen sind wir sehr stark von einer – mal positiven und mal negativen – Emotion besetzt, die wir dann, mit ein paar Argumenten verkleidet, als Grundlage dafür nehmen, etwas zu sagen oder zu tun. Die Art, wie wir es dann sagen oder tun, hängt natürlich direkt davon ab, wie stark unsere jeweilige Emotion ist. Im Falle einer großen Freude ist es eine Lobeshymne und im Falle der Wut eine entsprechend niederschmetternde Antwort, nicht selten mit der ein oder anderen Drohung versehen.

Der Umgang mit dem Corona-Virus führt uns diese Tendenz erneut vor Augen. Was für manche Personen oder Gruppen „das Richtige“ schlechthin ist, ist für Andere „das Schlimmste“, was passieren könnte oder sollte. Und es betrifft nicht nur unsere Gespräche, sondern die der Expert*innen untereinander genauso.

Warum ist das so?
Es geschieht immer dann, wenn unsere Präsenz von einer einzigen Emotion sehr schnell und sehr stark besetzt wird. Welche es ist, ist in diesem Fall gleichgültig. Die Wirkung ist entscheidend. Und diese zeigt sich darin, dass wir dann ausschließlich diese eine Emotion sind, was manchmal ganz schön sein kann, häufig aber dazu führt, dass unser Blick und die Emotion derart miteinander verschmelzen, dass der Raum zwischen dem Impuls und unserer möglichen Antwort gegen Null tendiert.

Wir sind dann impulsiv und kämpfen eigentlich mehr um uns und unser Selbstbild, als dass wir den Raum dafür offenhalten, uns mit der Angelegenheit, vor allem wenn sie komplexer ist, genauer zu befassen. Oder die Meinung einer anderen Person, als eine mögliche, einfach stehen zu lassen.

Interessanterweise rechtfertigen wir solche Meinungsäußerungen oder andere Handlungen mit „Spontanität“ oder „Authentizität“. Welche Bezeichnung sie wirklich verdienen, sollten wir eher von ihren jeweiligen Wirkungen ableiten als von unserem Anspruch, uns immer wieder zum Maßstab der Wirklichkeit stilisieren zu müssen. Deswegen ist es bereits ganz gut und hilfreich, wenn wir uns darin üben, etwas länger still zu sitzen und alles so zu lassen, wie es sich zeigt. Einfach gesagt, ich weiß es.

Alexander Poraj

katholischer Diplom-Theologe, Schwerpunkt Religionswissenschaften, Promotion zum Thema: „Der Begriff der Ich-Struktur in der Mystik Meister Eckeharts und im Zen-Buddhismus“. Er ist Zen-Meister der Linie "Leere Wolke" (Willigis Jäger) und von Willigis Jäger ernannter Kontemplationslehrer. Er war u. a. Geschäftsführer der Oberbergkliniken, Mitbegründer der Stiftungen West-Östliche Weisheit in Spanien und Polen sowie der Institute für persönliche Entwicklung "Euphonia" in Barcelona und Breslau. Er ist Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes, Mitglied des Präsidiums der West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung und Geschäftsführer der Dr. Poraj & Partner GmbH in Zürich. www.alexanderporaj.de, www.drporaj.ch
 
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