Auch in der Angst zu Hause sein

von Zen-Meister Alexander Poraj, Mitglied des spirituellen Beirats am Benediktushof

Das lang erwartete Tauwetter ist überall zu spüren und ein Aufatmen ist immer deutlicher wahrzunehmen. Immer mehr stillgelegte Aktivitäten können langsam wieder aufgenommen werden und Deutschland gehört zu den Ländern, die wegen ihres Krisenmanagements bewundert werden. Das bedeutet auch, dass es andere Gemeinschaften viel schlimmer getroffen hat als uns und zwar sowohl was die Zahl der verstorbenen Menschen angeht als auch die gesamte kollektive Fähigkeit, sich auf eine plötzliche und unbekannte Bedrohung einzustellen.

Für mich ist das eine wichtige Beobachtung und Erfahrung zugleich. Es geht mir nämlich um die Art, wie wir auf eine Bedrohung reagieren. Wir tun es mit dem, was wir „Angst“ nennen. Angst ist eine Kontraktion. Das Wort „Angst“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Enge“. In der Angst ziehen wir uns individuell und kollektiv zusammen, d.h. wir frieren unsere Aktivitäten weitestgehend ein – bis hin zu einer Haltung der Starre. Und genau das ist in den meisten Ländern der Welt auch geschehen. Grenzen wurden geschlossen, Bezirke, Städte ebenso und es gab auch Verordnungen, sich in den eigenen vier Wänden eingeschlossen zu halten.

Gleichzeitig jedoch ergab sich die Möglichkeit zu einer inneren Haltung der Offenheit und dem Kontakt zur Wirklichkeit, sodass das Sichschützen nicht überall zu einer Haltung der Starre geführt hat. Das war sowohl wichtig als auch entscheidend, denn es bedeutet, dass wir uns vor der möglichen Ansteckung, aber nicht vor dem Leben in Schutz genommen haben. Das ist ein kleiner, jedoch sehr wichtiger Unterschied. Und genau auf diesen möchte ich heute hinweisen. Unsere Instinkte und unsere Phantasie können uns sowohl in eine Starre als auch in eine Haltung der Selbstüberschätzung führen. Dafür braucht es nicht viel und beides können wir in dieser Zeit beobachten. In der Berührung mit der Wirklichkeit zu bleiben, ist dagegen alles andere als leicht und selbstverständlich, weil diese Haltung eben nicht auf dem schnellen und unbewussten Mechanismus der Instinkte und Impulse beruht und auch nicht von der Phantasie gesteuert wird.

Diese Berührung und der Kontakt mit dem was ist, erfordert genau das, was wir als die „Übung“ bezeichnen. Sie zeigt sich darin, dass wir sowohl unsere Gedanken als auch unsere Impulse in die Berührung mit genau dem bringen, was gerade geschieht. Das nennt man Besonnenheit oder sogar Gelassenheit. Denn wir können und sollen uns schützen, ohne jedoch Besonnenheit und Gelassenheit zu verlieren. Den Verlust von beidem nehmen wir und vor allem andere dadurch wahr, wenn wir in der Starre unsere Wahrnehmungsfähigkeit für das, was gerade wirklich passiert, verlieren. Verlieren wir sie aber, müssen wir den Kontakt mit der Wirklichkeit ersetzen. Und genau das ist der Nährboden für allerlei Verschwörungstheorien und Weltuntergangsszenarien, die derzeit mal wieder Hochkonjunktur haben.

Ohne den direkten Kontakt zur Wirklichkeit müssen wir uns diese erfinden und das tun unsere Köpfe sehr gerne. Das bezieht sich nicht nur auf Pandemie-Theorien. Das machen wir in allen anderen Bereichen und vor allem mit allen Menschen, mit denen wir direkten Kontakt vermeiden und diesen durch unsere Vorstellungen und Interpretationen ersetzen müssen genauso. Wir liegen dann meistens – wen wundert’s – wortwörtlich daneben. Die meisten sehen es, nur wir nicht. Und die Gleichgesinnten bilden genau jene Ausnahme, welche die Regel bestätigt.

Deswegen lasst uns immer wieder unsere Haltung anhand dessen, was ist und wie es ist, ausrichten und uns so vom Leben führen. Denn sowohl in der Angst als auch im Mut vollzieht sich immer schon und immer nur das eine einzige Leben. Lass uns deshalb in beiden Haltungen dabei sein, denn genau darin zeigt sich täglich und praktisch unser erweitertes Bewusstsein.

Alexander Poraj

katholischer Diplom-Theologe, Schwerpunkt Religionswissenschaften, Promotion zum Thema: „Der Begriff der Ich-Struktur in der Mystik Meister Eckeharts und im Zen-Buddhismus“. Er ist Zen-Meister der Linie "Leere Wolke" (Willigis Jäger) und von Willigis Jäger ernannter Kontemplationslehrer. Er war u. a. Geschäftsführer der Oberbergkliniken, Mitbegründer der Stiftungen West-Östliche Weisheit in Spanien und Polen sowie der Institute für persönliche Entwicklung "Euphonia" in Barcelona und Breslau. Er ist Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes, Mitglied des Präsidiums der West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung und Geschäftsführer der Dr. Poraj & Partner GmbH in Zürich. www.alexanderporaj.de, www.drporaj.ch
 
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