Vorstellungen vom Leben und erlebtes Leben

von Daniel Rothe, Lehrer der Kontemplationslinie Wolke des Nichtwissens und Mitglied des spirituellen Beirats am Benediktushof

So hätte sich Juan de la Cruz Ostern 1578 sicherlich nicht vorgestellt. Aber so musste er es erleben: Eingezwängt in einem kleinen Raum in einem Kloster in Toledo hockend, ohne Besuch von Freunden, aber gemobbt von seinen „Mitbrüdern“. Anfang Dezember 1577 war er von seinen Kidnappern nach Toledo gebracht worden. So musste er bereits Weihnachten in dieser Situation feiern, nicht wissend wie lange diese qualvolle Situation andauern würde. Ostern war sie noch immer nicht vorbei. Erst Mitte August 1578 gelang ihm nach fast neun schmerzvollen Monaten die Flucht.

Für viele ist Juan als der große spanische Mystiker Johannes vom Kreuz bekannt. Seine literarischen Werke faszinieren auch heute noch. Dazu zählt auch sein Geistlicher Gesang. Diesen – zumindest die ersten 31 Strophen – verfasste Juan in der Zeit seiner Entführung. In diesem Gedicht besingt er in poetischer Form den Prozess des Erlebens absoluter Einheit mit dem Leben. Oder mit Juans Bildern beschrieben: Er besingt seine Liebesbeziehung mit Gott.

Das klingt schön: Einheit und Liebesbeziehung. Die neun Monate Haft gehören aber auch dazu. Das jedoch klingt schrecklich. Beides war für Juan real: das Erleben der absoluten Einheit mit dem Leben und zugleich das Erleben einer Situation in Gefangenschaft, die alles andere als leicht und angenehm war.

Ostern 2020 hätte sich wahrscheinlich auch niemand und uns so vorgestellt und gewünscht. Aber so ist es jetzt. Wir müssen zuhause bleiben, allein oder im kleinen Kreis. Es sind keine realen Treffen mit Freunden oder Familie möglich. Vielleicht sind einige krank oder voller Sorge, wie es beruflich oder familiär in dieser ungewohnten Situation weitergehen soll. Mit dem Verweis auf Juans Ostererleben will ich keineswegs etwas beschwichtigen und behaupten, so schlimm sei es bei Juan doch gar nicht gewesen oder so schlimm sei es doch auch bei uns gar nicht. Manche mögen Ostern 2020 tatsächlich nicht als schlimm oder schwer erleben, andere hingegen schon.

Dennoch: Wie bei Juan kann es auch bei uns sein. Ostern 2020 wird ganz anders als wir es uns vorgestellt hatten. Noch vor wenigen Wochen waren da noch ganz andere Pläne, schöne und angenehme. Und dann kam alles anders. Aber wie bei Juan in seiner Auszeit kann sich auch in unserer Auszeit neben oder in der Schwere der Situation noch eine andere Seite des Erlebens von Ostern zeigen. Zumindest dann, wenn wir sie nicht übersehen.

Vielleicht drängt es uns nicht, 31 Strophen zu dichten. Und vielleicht besitzt die andere Seite unseres Ostererlebens nicht mal den Hauch des Spektakulären. Aber wenn wir die nicht zu realisierenden Vorstellungen von unserem Ostern hinter uns lassen, vielleicht sogar mit einem lachenden Blick, lässt sich vielleicht sogar in den unscheinbaren Dingen erleben, was es heißt zu leben. Plötzlich sind da nicht nur innere Unruhe, Langeweile, Frust, Angst oder Depression.

Vielleicht lässt sich dann zwischen uns und unserem Leben eine Einheit erleben? Vielleicht fühlt sich dabei nicht jeder Augenblick und nicht jede Situation angenehm an; aber irgendwie richtig, lebendig?

Deshalb und trotz allem: Frohe Ostern!


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Daniel Rothe

katholischer Theologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionsphilosophie und -wissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Promotion zum Thema "Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht. Metaphorik und religiöses Erleben im 21. Jahrhundert", Kontemplationslehrer der Linie "Wolke des Nichtwissens" (Willigis Jäger). www.jetztundhier-bensheim.de