Raum und Enge

von Daniel Rothe, Lehrer der Kontemplationslinie Wolke des Nichtwissens und Mitglied des spirituellen Beirats am Benediktushof

Wie lange dauert das jetzt noch mit Corona? Und wie lange soll der Ausnahmezustand noch anhalten? Diese Fragen stellen sich demjenigen genauso, der einfach nur sein gewohntes Leben zurückhaben will, wie derjenigen, die angesichts der gegenwärtigen Situation am Verzweifeln ist.

Manche stecken bereits in schwierigen Situationen – mit Familie, Kindern und Partnerschaft. Die jetzige Situation verstärkt den Druck noch. Andere sind völlig allein und leiden unter der Einschränkung der sozialen Kontakte. Wieder andere müssen beruflich mehr leisten als vor der Corona-Krise. Für manche ist da noch die Sorge um den Arbeitsplatz oder die Verantwortung für das Unternehmen und die Angestellten. Einige engagieren sich momentan auch freiwillig für unsere Gesellschaft und erkrankte Mitmenschen und reiben sich dabei bis zur Erschöpfung auf. Nicht zuletzt besteht auch noch die Angst vor einer möglichen Infektion mit dem Coronavirus.

Auf den Punkt gebracht: Es ist die Erfahrung des von allen Seiten Bedrängtwerdens, des nicht mehr Weiterwissens, des in die Enge Getriebenseins, die sich so schwer anfühlt und vehement nach dem „Wie lange noch“ fragen lässt. Neu ist ein solches Erleben allerdings nicht – das persönlich wahrscheinlich genauso wenig wie das der gegenwärtigen Zeit.

Letzte Woche ist in mir ein Satz aufgetaucht, der mich seitdem beschäftigt. Er stammt aus einem antiken Brief. Neben einem problematischen situativen Erleben verweist er inmitten dieser Situation auf eine Dimension, die sich als genauso real erweisen kann, wie die eben skizzierte:

Wenn es gut geht, ist das von allen Seiten Bedrängtwerden nämlich nur eine Dimension der gegenwärtigen Situation. Paulus von Tarsus erlebte vor fast 2000 Jahren eine solch schwere Situation wie nicht wenige es heute tun. Seinen Freunden in Korinth (Vgl. 2 Kor 4,7.8a) schrieb er aber, dass er genau in dieser Situation, in der er sich zwar von allen Seiten in die Ecke getrieben erlebe, gleichzeitig auch einen Lebensraum fände. Dieser ermögliche ihm nicht nur irgendwie ein Überleben, um zu funktionieren. Es sei ein Raum, in dem er eine Kraft erlebe, die nicht aus seinem Ich-Bewusstsein stamme. Paulus von Tarsus, als antiker Mensch, bezeichnet sie als göttliche Kraft.

Wie auch immer diese Kraft im 21. Jahrhundert bezeichnet werden mag: Wer sie erlebt, darf sich voller Dankbarkeit von ihr genauso treiben lassen wie von jener Kraft der Angst und der Sorge.

Unsere Kultur ist allerdings sehr geübt darin, allein auf die Kraft der Angst und Sorge fokussiert zu sein und lediglich diese als real anzusehen. Doch die Erfahrung eines Paulus von Tarsus könnte ein Impuls sein, diese Haltung einmal infrage zu stellen. Warum sollte nicht auch diese freimachende Dimension der Wirklichkeit jenseits der eigenen Ängste und Sorgen in den in den Blick genommen werden? Warum sollte man nur dabei hängen bleiben, allein seinen Ängsten und Sorgen zu vertrauen? Warum sollte man nicht in seinen Ängsten und Sorgen auch der Kraft vertrauen, die einen inmitten des in die Enge Getriebensein aufatmen lässt?


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Daniel Rothe

katholischer Theologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionsphilosophie und -wissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Promotion zum Thema "Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht. Metaphorik und religiöses Erleben im 21. Jahrhundert", Kontemplationslehrer und Mitglied im Vorstand der Kontemplationslinie "Wolke des Nichtwissens" (Willigis Jäger). www.jetztundhier-bensheim.de