Auslesen und dann lesen

von Daniel Rothe, Lehrer der Kontemplationslinie Wolke des Nichtwissens und Mitglied des spirituellen Beirats am Benediktushof

Täglich gibt es eine Unmenge von News, Fake News oder auch nur Belanglosigkeiten zum Coronavirus. Der ungehemmte Konsum dieser Inhalte kann einen verunsichern oder sogar verrückt machen. Letztlich kann die ständige Beschäftigung mit diesen Inhalten das eigene Bewusstsein derart vernebeln, dass man sich selbst fremd wird. Ängste und Sorgen übernehmen dann das Ruder des Lebens und bestimmen massiv das Denken, Fühlen und Handeln.

Natürlich ist es sinnvoll, sich zu informieren. Denn wir haben Verantwortung für uns und unsere Mitmenschen. Dafür ist ein entsprechender Sachstand über das Coronavirus und über Schutzmaßnahmen notwendig. Das reicht dann aber.

Unabhängig von der Coronakrise haben wir nämlich auch Verantwortung für uns und unsere Mitmenschen. Das darf nicht in Vergessenheit geraten. Es gilt daher gut auszulesen, was ich mir anhöre, anschaue oder lese.

Eine gute Praxis könnte es sein, neben der täglichen „Zeitungslektüre“ etwas zu lesen, was meinen Geist und mein Herz nährt. Dies ist eine Übung, die der kontemplativen Tradition zu eigen ist. Dort kommt dem Lesen und Hören von existentiell bedeutsamen Texten schon immer eine große Bedeutung zu.

Das Wichtigste bei dieser Art des Lesen ist nicht was man liest, sondern wie man liest. Das heißt, es geht dabei nicht darum, sich Wissen in Form von Informationen anzueignen oder um eine sonstige Form der intellektuellen Auseinandersetzung. Vielmehr geht es darum, ganz passiv zu lesen und zu schauen, was dann geschieht. Es tut gut regelmäßig, d.h. täglich 15 oder auch nur 10 Minuten in dieser Haltung zu lesen oder auch nur ein Kapitel, eine Seite oder einen Abschnitt. Es kann auch ein Podcast sein, den ich höre oder ein Video, das ich schaue.

Es ist auch nicht wichtig, ob den Text andere für heilig halten. Klar, kann ich bei dieser Praxis die Bibel oder andere heilige Schriften lesen. Oder ich lese Texte von Frauen und Männern, die als Mystikerinnen und Mystiker bezeichnet werden. Ich kann aber auch zeitgenössische Gedichte lesen oder auch Dostojewski.

Kriterien für eine für mich angemessene Lektüre können sein, dass dieser Text mein Denken, Fühlen und Handeln in Frage stellt, dass er mich erleben lässt, dass die Welt größer ist als ich sie momentan erlebe. Dass mich dieser Text entweder anmacht oder mich tröstet, je nachdem, wo ich gerade in und mit meinem Leben stehe. Auf jeden Fall sollte mich dieser Text und der Prozess des Lesens herausfordern, auf die ein oder andere Weise. Er sollte mir nicht das Gefühl vermitteln, dass ich in meiner bisherigen Wirklichkeitsblase, in der ich gerade lebe, fertig und angekommen sei. Er sollte mich irritieren, kritisieren, mich über mich und die Welt lachen lassen, trösten, auffangen, Orientierung vermitteln, motivieren, vielleicht aber auch innehalten lassen. Wenn das Lesen etwas von all dem anstößt, dann ist es gut, dann ist die Lektüre für mich angemessen.

Das Einüben der Begegnung mit mir selbst mittels der ausgewählten regelmäßigen Lektüre kann eine Hilfe sein, um zu mir zu kommen und bei mir zu bleiben und mich nicht von Ängsten und Sorgen verrückt machen zu lassen. Einige würden es vielleicht achtsames Lesen nennen, von dem ich hier schreibe. Wie auch immer es genannt wird: Es ist eine Praxis, um gelassen zu bleiben oder zu werden. Denn es ist nicht unerheblich, mit welchem Input mein Bewusstsein konfrontiert wird.


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Daniel Rothe

katholischer Theologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionsphilosophie und -wissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Promotion zum Thema "Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht. Metaphorik und religiöses Erleben im 21. Jahrhundert", Kontemplationslehrer und Mitglied im Vorstand der Kontemplationslinie "Wolke des Nichtwissens" (Willigis Jäger). www.jetztundhier-bensheim.de