Online-Burnout

von Zen-Meister Alexander Poraj, Mitglied des spirituellen Beirats am Benediktushof

Je nach Bundesland haben wir mittlerweile mindesten drei Wochen zum Teil stark reduzierter Bewegungsfreiheit hinter uns. Alle sind wir – mehr oder minder – täglich davon betroffen.

Seit geraumer Zeit verfügen wir über die Möglichkeit, so manches „online“ erledigen zu können. Das ist, was unsere Kultur und unsere Gewohnheiten angeht, eine relativ neue Errungenschaft. Dafür aber ist sie unglaublich weit entwickelt und hat uns fast alle in sehr kurzer Zeit miteinander vernetzt bzw. verbunden. Das Ganze geht mittlerweile so weit, dass viele von uns Dank dieser Technologien problemlos von Zuhause arbeiten können. Eine weitere schöne und angenehme Seite dieser Verbindungen besteht darin, dass wir nahezu pausenlos und für relativ wenig Geld mit fast jedem persönlich oder auch in Gruppen in Dauerkontakt sein können. Doch diese Sonnenseiten unserer technischen Errungenschaften haben natürlicherweise auch ihre Schattenseiten.

Einige berichten darüber, dass sie fast den ganzen Tag hindurch irgendeine Kontaktform online erleben. Das bedeutet, dass sie mit jemanden online Frühstücken, Mittagessen, sich zum Tee verabreden. Dazwischen findet ja auch noch Home-Office statt, mit Online-Meetings oder Skype-Telefonaten. Natürlich schauen wir uns die jüngsten Videos und Vorträge auf Youtube an, das Online-Sesshin kommt auch noch dazu und den ein oder anderen Film laden wir uns auch noch herunter. Fast vergessen hätte ich in diesem Zusammenhang unser klassisches Fernsehen, das per Live-Stream oder in der Mediathek verfügbar ist, von Musik-, Hörbuch- und Podcast-Angeboten ganz zu schweigen. Dazwischen piept ständig das Smartphone, denn gerade jetzt, wo wir doch plötzlich soooo viel Zeit haben, möchte man die eine oder andere super wichtige oder witzige Nachricht teilen. So kommen schnell noch ein paar Dutzend weiter Inputs dazu.

Ich glaube sie wissen bereits, worum es mir geht und was ich eigentlich sagen will:

Ohne dass wir es bemerkt haben, befinden wir uns innerhalb kürzester Zeit im Stress. Jemand hat mir sogar geschrieben, er stehe kurz vor einem Online-Burnout. Eine wahnwitzige, doch sehr realistische Einschätzung der beginnenden Situation.

Wie können wir dieses Dilemma lösen? Wir werden uns eine kleine Disziplinierung gönnen können und auch müssen. Damit meine ich, dass wir genauer und konsequenter auf unseren Tagesablauf achten und diesen auch strukturieren sollten. Feste Zeiten für Filme, für Chats oder Treffen sind hier sehr vom Vorteil. Dazwischen sollten wir auf ausreichende Pausen achten. Spüren wir genau nach, warum wir gerade jetzt unbedingt telefonieren, skypen oder etwas online anschauen müssen. Muss das wirklich so oft sein? Oder läuft es mechanisch, so als könnte ich den Raum und die Stille und das All-Ein sein wirklich nicht zulassen und etwas länger ertragen?

Lasst uns die gerade stattfindende Raum-Zeit etwas mehr erleben und zwar ganz direkt. Vor allem für uns, die wir in der kontemplativen Haltung bereits geübt sind, bieten sich jetzt Möglichkeiten an, von denen wir noch vor nicht allzu langer Zeit wirklich geträumt haben: wir haben mehr Zeit und es ist so viel stiller geworden.

Natürlich ist die Pandemie kein Zuckerschlecken und die Auszeit bringt mit jedem weiteren Tag ihrer Dauer eine unabsehbare Verkettung von wirtschaftlich-politischen Konsequenzen mit sich, die uns früher oder später alle treffen werden.

Deswegen machen wir uns bitte nicht auch noch menschlich verrückt, indem wir uns mit allen möglichen und unmöglichen Inhalten emotionell aufladen und aufladen lassen, anstatt gerade jetzt, die uns auf dem Tablett – nicht zu verwechseln mit Tablet – servierte Auszeit anzunehmen und zu durchleben.

Alexander Poraj

katholischer Diplom-Theologe, Schwerpunkt Religionswissenschaften, Promotion zum Thema: „Der Begriff der Ich-Struktur in der Mystik Meister Eckeharts und im Zen-Buddhismus“. Er ist Zen-Meister der Linie "Leere Wolke" (Willigis Jäger) und von Willigis Jäger ernannter Kontemplationslehrer. Er war u. a. Geschäftsführer der Oberbergkliniken, Mitbegründer der Stiftungen West-Östliche Weisheit in Spanien und Polen sowie der Institute für persönliche Entwicklung "Euphonia" in Barcelona und Breslau. Er ist Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes, Mitglied des Präsidiums der West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung und Geschäftsführer der Dr. Poraj & Partner GmbH in Zürich. www.alexanderporaj.de, www.drporaj.ch
 
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