Von der Selbstliebe oder dem Ja zum Nein

von Irene Schneider, Mitglied der spirituellen Leitung am Benediktushof

Die Beziehung zu mir selbst ist die längste Beziehung im Leben und von der Qualität dieser Beziehung hängt wesentlich ab, wie ich das Leben erfahre und gestalte.   Auf dem Büchermarkt finden sich ebenso wie im Internet viele Ratgeber, die die Verbesserung der Beziehung zu sich selbst bis hin zur Selbstliebe und Selbstfürsorge als Thema haben.  Dieses scheint einen Nerv und ein Bedürfnis zu treffen, wenngleich es Thema zu allen Zeiten war.

Gleichzeitig gab es selten so viele Möglichkeiten der Selbstdarstellung und einen solchen Drang zur Selbstoptimierung wie aktuell durch die sozialen Medien, in denen man sich schön und dazugehörig, leistungsorientiert und erfolgreich darstellen sowie voneinander abheben kann. Auch der Markt der spirituellen Möglichkeiten und das karitative oder ökologische Engagement können zur Selbstdarstellung genutzt werden.

Wenn sich darin egoistische Selbstbezogenheit oder narzisstische Selbstverliebtheit zeigt, hat das nichts mit Selbstliebe zu tun. Denn es ist persönliche Unsicherheit, meist unbewusste Selbstkritik oder gar Selbstablehnung, die sich hinter der Selbstoptimierung und Selbstdarstellung verstecken.

Selbstliebe ist das Gegenteil. Selbstliebe bedeutet, dass ich mich selbst und alles, was mich ausmacht, in das Energiefeld der Liebe einbeziehe. Ich sage Ja zu dem was ist, was mein Leben aktuell ausmacht, was meine Wirklichkeit ist. Ich empfinde Mitgefühl für mich selbst, gerade wenn ich mich in einer schwierigen Situation befinde oder Selbstzweifel erlebe. Meist haben wir mit den anderen mehr Mitgefühl als mit uns selbst. Ein Satz wie „Ich bin nicht genug“ mit all seinen individuellen Variationen lässt uns streng und kritisch mit uns selbst umgehen. Es ist das Nein sich selbst gegenüber, das die Selbstverurteilung und Selbstentwertung bestimmt sowie das Selbstmitgefühl und die Liebe zu sich selbst verhindert.

Selbstliebe bedeutet Bejahung und letztendlich radikale Bejahung: Ja auch zum Nein, das ich im Augenblick mir selbst gegenüber spüre.

In der Selbstliebe verbinde ich mich mit mir und allen Aspekten, die ich gerade an mir wahrnehme, auch jenen, die ich ablehne. Ich sage sogar Ja zu der Tatsache, dass ich gerade einen Aspekt an mir ablehne, statt dies in überzogener Selbstdarstellung zu überspielen. In der Folge kann es sogar passieren, dass das Nein durch die Kraft des Ja verwandelt wird. Der Gesprächstherapeut Carl Rogers hat es folgendermaßen ausgedrückt: „Wenn ich mich so wie ich bin akzeptiere, dann ändere ich mich. Ich bin davon überzeugt, dass wir uns nicht ändern können … bis wir völlig akzeptieren, was wir sind. Dann ereignet sich fast unmerklich die Veränderung.“

Doch Selbstliebe ist absichtslos; sie öffnet einen Raum für das Da-Sein-dürfen, in dem Verwandlung sich ereignen und Verbundenheit erfahren werden kann.

Ein solches Ja und die Verbundenheit sind dabei nicht ein Ergebnis meiner aktiven Bemühungen. Sie sind vielmehr schon immer da und ich öffne mich dafür im Hier und Jetzt, lasse mich damit verbinden. Denn ich lebe in einem großen Ja,  bewege mich in einem Raum der Liebe, bin in der Verbundenheit.

„Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst.“

Meister Eckhart

Solche Selbstliebe bedeutet: ich höre das Ja zu mir, lasse mich davon berühren und es zu einem Ja zu mir selbst werden, das sich ausdrückt in Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl. Sie bedeutet: ich lasse mich in das Energiefeld der Liebe hineinnehmen und von ihr durchströmen; ich lasse mich lieben mit meiner „Wunde der Ungeliebten“, wie sie Peter Schellenbaum nennt. Diese Art der Selbstliebe oder besser gesagt: des Geliebtwerdens als ein Sein in der Liebe wird zur Quelle einer Liebes- und Lebenskraft, die mich lebendig sein lässt, weiterfließt zu den Menschen und sich ausdrückt als ein engagiertes Ja zum Leben.


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Irene Schneider

Irene Schneider, geboren 1964, ist Diplom-Theologin sowie Gestalttherapeutin und hat eine langjährige Berufserfahrung in verschiedenen Bereichen der Seelsorge, Persönlichkeitsentwicklung und spirituellen Begleitung. Zudem ist sie als Seminarleiterin und Beraterin tätig. Achtsamkeitspraxis und systemische Aufstellungsarbeit unterstützen sie in ihrer Arbeit. Sie geht seit vielen Jahren den Weg der christlichen Spiritualität und des kontemplativen Gebets. Sie ist Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes.