Hier bin ich Mensch …

von Irene Schneider, Lehrerin für christliche Spiritualität

„Das Ziel aller spirituellen Wege ist die volle Entfaltung unseres Menschseins im Hier und Jetzt.

Willigis Jäger

Über das Menschsein ist zu allen Zeiten viel geschrieben und gesagt worden und dennoch hört die Frage nie auf und wird immer wieder neu gestellt werden: Wer ist der Mensch? Was bedeutet Menschsein? Wann bin ich Mensch und was unterstützt mich darin, Mensch zu sein?

Angesichts sich ständig verändernder Wirklichkeiten und Herausforderungen sowie neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse verändern sich auch die Antworten auf diese Fragen. Und letztendlich muss jeder Mensch diese Frage nach seinem Menschsein persönlich beantworten.

„Zufrieden jauchzet gross und klein: hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ heißt es im Osterspaziergang von Goethe angesichts der aufbrechenden Natur im Frühling und des gemeinsamen Spaziergangs im Freien. Dabei geht es nicht um eine theoretische Antwort, sondern um konkrete Erfahrungen.

„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“

Welche Situationen und Erfahrungen aus Ihrem Leben, in denen Sie diesen Satz hätten sagen können, fallen Ihnen ein?

Erfahrungen des Staunens in der Natur wie bei Goethe, …

… liebevolle und berührende, tiefe oder leichte Begegnungen mit Menschen,
… Erfahrungen von Solidarität und Unterstützung in einer Notsituation,
… Situationen, in denen ich mich gesehen und wertgeschätzt fühle,
… ein Vergessen von Zeit und Raum beim Hören eines Musikstückes oder beim Tanzen,
… das Erleben von schöpferischer Kraft, Erfolg und Wirksamkeit im beruflichen Tun,
… oder einfach das Erleben des puren Daseins im Augenblick?

Ob und wie die Dimension des Transzendenten, Göttlichen, Namenlosen oder wie auch immer es genannt wird, zum Menschsein dazu gehört – das muss jeder Mensch für sich selbst beantworten.

Viele Menschen entdecken bei ihrer Suche nach sich selbst diese Dimension als wesentlich und erfahren – so wie Willigis Jäger es ausdrückt – auf dem spirituellen Weg eine Entfaltung ihres Menschseins: durch die Erfahrung von Verbundenheit, Einheit und Liebe, durch die Überschreitung ihres Ichs, durch die Berührung mit dem Geheimnis, durch die Lösung von biographischen Prägungen und Konventionen, durch die Befreiung von Identifikationen, durch die Linderung von Leid.

Für viele spirituelle Menschen geht es dabei um die Entfaltung des göttlichen Lebens in sich und aus sich heraus. Sie ahnen oder erfahren, dass sie in ihrer einmaligen Persönlichkeit und im Vollzug ihres persönlichen Lebens ein Ausdruck der göttlichen Energie, des göttlichen Stromes sind, ein Aspekt der göttlichen Wirklichkeit. Sie erkennen ihre göttliche Natur und erfahren dabei, dass sie in ihrer Tiefe, in ihrem Wesen eins sind mit allem.

„Ich und der Vater sind eins“, so hat es Jesus formuliert (Joh 10,30), wobei er den göttlichen Urgrund mit ‚Vater‘ bezeichnet.

Für Willigis Jäger bleibt der Mensch ohne die Koordinate des Göttlichen, ohne das Bewusstsein der Einheit mit dem Göttlichen, auf seinem Wachstumsweg stecken; er bleibt ein halber Mensch. Und so galt sein Wirken der vollen Entfaltung des Menschseins und der Wandlung von innen heraus.

Es ist mir ein Anliegen, dass der Benediktushof weiterhin ein Ort des Menschseins und der Menschwerdung ist, wo Menschen Kraft, Tiefe, Wachstum und Lebendigkeit erfahren. Daran will ich auf der Grundlage einer christlich-befreienden und kontemplativen Spiritualität mitwirken.

Und so möge der Benediktushof durch seine Menschen sowie mit seinen spirituellen Angeboten für Sie ein Ort sein, an dem Sie erfahren und sagen können:

Hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein.


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Irene Schneider

Irene Schneider, geboren 1964, ist Diplom-Theologin sowie Gestalttherapeutin und hat eine langjährige Berufserfahrung in verschiedenen Bereichen der Seelsorge, Persönlichkeitsentwicklung und spirituellen Begleitung. Zudem ist sie als Seminarleiterin und Beraterin tätig. Achtsamkeitspraxis und systemische Aufstellungsarbeit unterstützen sie in ihrer Arbeit. Sie geht seit vielen Jahren den Weg der christlichen Spiritualität und des kontemplativen Gebets. Sie ist Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes.