Das wahre Selbst im Spiegel des Außen erkennen

Impulsbeitrag von Doris Zölls, Zen-Meisterin der „Linie Leere Wolke“

Dass sich das Außen in unserem Inneren spiegelt, ist uns heute geläufig. Doch haben wir wirklich realisiert, was das für uns bedeutet und welche Konsequenzen diese Erkenntnis für unser alltägliches Leben hat? Um diese Erkenntnis zu leben, müssen wir uns von der Vorstellung befreien, dass es ein Ich gibt, das von allem abgeschlossen und fest ist und der Welt eigenständig und selbstbestimmt gegenübersteht. So wie sich der Fluss in den Wellen zeigt, die alle miteinander in Beziehung stehen, wobei keine aus dem Fluss herausfällt und jede Welle den gleichen Fluss repräsentiert, so sind wir wie alle Erscheinungen dieser einen Welt in jedem Moment eine „Welle des Universums“. Wir sind ein unentwegtes Bewegtes und doch durch den Fluss des Universums unbewegt.

Aalbach am Benediktushof

Wir erscheinen als Wellen begrenzt und sind doch als Fluss unbegrenzt. Nichts ist fest, alles sind Wellen, die momentan erscheinen und sich im selben Augenblick schon wieder anders zeigen. Erblicken wir die Wellen und erleben darin den Fluss, so sehen wir, obwohl uns andere Wellen begegnen, doch nur andere Ausdrucksformen desselben Flusses. Wenn ich nicht an ein abgeschlossenes, für sich bestehendes Ich glaube, erlebe ich mich in jedem Moment als Vollzug des Flusses, nicht getrennt von den anderen. Im Gegenteil: Alles andere wird für mich ein Erkennen dessen, was in mir und durch mich lebt.

Die Existenzen fremder Menschen sind die besten Spiegel, worin wir die unsrige erkennen können

(Johann Wolfgang von Goethe)

Goethe nennt das Außen daher unseren Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können. Dies sollte dazu führen, dass wir uns für die Welt interessieren, uns nicht abschotten oder wegschauen, denn in allem begegne ich mir selbst. Welterkenntnis ist Selbsterkenntnis und Selbsterkenntnis ist Welterkenntnis. Je mehr ich mich selbst als diesen Fluss erkenne, desto mehr sehe ich ihn auch in den anderen.

Den Fluss in den Wellen zu erkennen, das Eine im Vielen zu erleben, dafür müssen wir wieder lernen, wie die Kinder zu staunen. Dabei dürfen wir keine Grenzen aufbauen, weder in uns selbst noch gegenüber dem Fremden.
Beim Staunen drängen sich meine Vorurteile nicht mehr in den Vordergrund. Ich lasse das, was ich wahrnehme, zu mir sprechen und lege keine eigenen Bedeutungen und Festlegungen mehr darauf. Ich komme in eine Art Nichtwissen, das nichts mit Dummheit oder Dumpfheit zu tun hat. Vielmehr bin ich offen dafür, was das Neue und Andere mir zu sagen hat. Dieses Neue oder Andere finde ich sowohl in mir als auch außerhalb von mir, denn alles sind die Wellen des Einen.

Wenn ich in mich schaue, entdecke ich viele Seiten, die mir nicht bewusst waren und die sich auch im Außen finden lassen. Diese Seiten sind oft nicht sehr angenehm, doch genau darum geht es: Sie bewusst wahrzunehmen und anzunehmen. Es ist eine große Herausforderung, sich selbst anzuschauen und die Barrieren niederzureißen, die sich im Laufe des Lebens aufgebaut haben.
Jeder von uns hat Verletzungen erlebt, sei es durch das, was wir anderen zugefügt haben, oder durch das, was andere uns angetan haben. Viele dieser Wunden haben wir nicht ausgeweint und heilen lassen, sondern nur gedeckelt. Sie bluten darunter weiter, äußern sich oft als Angst und Verlust von Vertrauen. Oder sie eitern und zeigen sich dann als Ärger, Wut oder sogar Hass. Die eigenen Wunden wahrzunehmen, anzunehmen und ausheilen zu lassen, ist gelebtes Mitgefühl mit sich selbst.

Die eigenen Verletzungen zu verstehen ist die Voraussetzung dafür, sie auch im anderen zu erkennen. Erst wenn ich mich selbst erkenne, erkenne ich mich im anderen.
Damit wird das andere zu meinem eigenen.

Ehrfurcht ist das Wort, das diese Haltung wunderbar beschreibt. Es vereint ehren und fürchten, denn beides ist im Erleben enthalten. Einerseits nehme ich mich oder jemand anderen oder etwas im Außen selbst staunend wahr und bin fasziniert, finde es wunderbar und verehre es sogar. Andererseits sehe ich jedoch Eigenschaften und Handlungen in mir oder bei anderen, die mich entsetzen und vor denen ich Angst habe. Meine erste Reaktion ist, mich abzuwenden, nicht hinzuschauen und es aus meinem Leben auszuklammern.

Ehrfurcht Dankbarkeit

Doch jetzt halte ich inne, suche tief unten meinen Atem, halte stand und gebe mich weder der einen noch der anderen Seite hin. In Sekundenschnelle erfasst mich fast unbemerkt Stille.

In ihr stirbt mein kleines Ich, ich wachse über meine Vorurteile mir und anderen gegenüber hinaus und das erhebende Gefühl der Ehrfurcht erfüllt mich.
Ehrfurcht zu erleben, sich selbst und anderem gegenüber, heißt, mitfühlend für sich selbst und damit für alles andere zu sein.

Das Autorinnengespräch mit Doris Zölls findet am Dienstag, 16. September um 19.30 Uhr statt – online & kostenfrei via Zoom.

Zum spirituellen Impulsbeitrag gibt es das „Autorinnengespräch“, ein Format, in dem sich interessierte Leser*innen und Kursteilnehmer*innen des Benediktushof zusammen finden, um gemeinsam mit dem Autor/der Autorin über den Impuls zu reflektieren.  Der gemeinsame Austausch kann eine sinnvolle und hilfreiche Ergänzung zur eigenen spirituellen Praxis sein. Der Ablauf ist dabei stets: Vortrag – Austausch in Kleingruppen – Fragen & Antworten im Plenum. Das ganze findet kostenfrei, online via Zoom statt. Anmeldung über den Button unten (gleicher Link wie beim Online-Sitzen in Stille).

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Doris Zölls

Evangelische Theologin, Zen-Meisterin (ernannt von Willigis Jäger) und Mitglied der Linie Leere Wolke West-Östliche Zen-Schule®.