„Weiter, besser, vollkommener? Vom Vergleichen und Bewerten“
von Marianne Leverenz, Zen-Lehrerin der Linie „Leere Wolke“ (Willigis Jäger)
Von der ersten Minute unseres Lebens an gehört das Vergleichen gefühlt untrennbar zu unserem Dasein. Nach der Geburt wird noch im Kreißsaal Größe und Gewicht des Babys angegeben. Und es ist nicht nur eine Beschreibung, sondern lädt sofort ein zum Vergleich: Wie war es bei den Geschwistern, bei den Babys der Freund*innen, bei einem selbst?
So geht es weiter: In allen Phasen unserer Entwicklung wird verglichen – durch die Zeit der Kinderbetreuung, in der Schulzeit und der Ausbildung, dann im Beruf mit Kolleg*innen und Vorgesetzten.
Wir Menschen internalisieren dieses Denken. Es wird zur Denkgewohnheit, der wir uns nicht einfach entziehen können. Doch dieses Vergleichen macht etwas mit uns, unserem Lebensgefühl, unserer Haltung dem Leben gegenüber. Es beeinflusst unsere Einstellung zu uns selbst und zu unserem Gegenüber.
Vergleichen wir uns mit Menschen, die vermeintlich bessergestellt sind, können wir uns als minderwertig empfinden: „Ich verdiene nicht so viel, ich sehe nicht so gut aus, meine körperlichen Fähigkeiten sind begrenzter, meine Partnerschaft ist nicht so glücklich wie die anderer.“
Genauso kann uns ein Vergleich mit Menschen, die scheinbar schlechter gestellt sind, besser fühlen lassen. Und dann zieht neben dem Vergleichen noch etwas anderes in unser Denken ein: sein Zwilling – das Bewerten.
Immer aber beinhaltet dieses Vergleichen ein Herausgehen aus dem Augenblick, wie er sich jetzt gerade zeigt. Es reißt uns aus dem unmittelbaren Erleben heraus.
Nun üben wir in unserer Praxis im Zen oder in der Kontemplation ganz im Augenblick, im unmittelbaren Erleben zu sein. Und doch entdecken wir auch auf diesem Weg, im spirituellen Kontext, wie sehr wir vom Vergleichen geprägt sind. „Die erste Meditation war viel besser als die letzte, ich hatte gar nicht so viele Gedanken.“ oder „Mein*e Sitznachbar*in hat viel ruhiger gesessen als ich.“
Und auch Geschichten, die von spirituellen Erlebnissen erzählen, können wir schnell mit dem Auge des Vergleichens und oft auch Bewertens wahrnehmen. Das können wir beobachten, wie wir die Koans lesen.
Als Beispiel ein Koan aus der Koansammlung Hekiganroku (Fall 33):
Die Geschichte handelt von einem Menschen, der als Laie schon lange meditiert. Und nun besucht er seinen Meister. Als er zum Meister kommt, zeichnet dieser einen Kreis in die Luft. Und der Besucher sagt: „Dass euer Schüler überhaupt gekommen ist, verfehlt schon die Sache. Warum zeichnet ihr noch dazu einen Kreis?“ Darauf schließt der Meister die Tür seines Zimmers.
Wir können uns nun fragen, wie wohl der Besucher darauf reagiert hat und was genau in dieser Begegnung erzählt wird. Das ist die eine Frage. Aber die zweite ist nicht weniger aufdeckend: Was beobachten wir, was nehmen wir wahr? In welche Richtung laufen unsere Gedanken?
„Wenn der Geist nicht unterscheidet, sind alle Dinge das eine Sosein. Vergleiche sind nicht möglich.“
(aus dem Shinjin Mei)
Es geschieht ganz schnell, dass sich unsere gewohnten Denkmuster auf die Wahrnehmung dieser Geschichte legen. Wie schnell lesen wir die Geschichte als eine, in der der Meister hier seinen Besucher prüft, schauen will, was dieser schon erfahren hat und ob er sein Erkennen der Wirklichkeit angemessen zeigen kann? So wird die Geste des Kreises in der Luft zur Herausforderung an den Besucher, die dieser aufgreifen und beantworten soll.
Wenn wir einen Schritt zurücktreten, entdecken wir vielleicht, dass sich unsere Vorstellungen und Erfahrungen aus den Bereichen Schule und Ausbildung, auch manchmal spiritueller Ausbildung, in diese Geschichte eingeschlichen haben und unser Wahrnehmen prägen. Dann kann eine Begegnung schnell zum gegenseitigen Messen der spirituellen Erkenntnis werden. Und wir sind schnell im Kreislauf von Vergleichen, Deuten und Werten gefangen.
Die Zen-Meisterin Sabine Hübner erzählt diese Geschichte aus einer anderen, mich sehr überzeugenden Perspektive.
Was geschieht hier: der Meister zeichnet einen Kreis in die Luft – ein Symbol, eine Geste der Vollkommenheit. Er zeigt, dass alles vollkommen ist, dieser Augenblick, diese Begegnung, dieses Kommen des Besuchers, ja er selbst.
Es gibt kein „so weit gekommen“ oder „nicht so weit gekommen“, kein „mehr“ oder „weniger“, kein „besser“ oder „schlechter“. Und so begrüßt der Meister seinen Besucher mit dem Zeichnen des Kreises:
Auch du bist die vollkommene Manifestation der großen Wirklichkeit. Es bedarf keiner richtigen Erwiderung mehr, nichts, was hinzuzufügen oder geprüft werden muss. Dieser Kreis der Vollkommenheit wird zur Einladung ins Leben, wie es sich jetzt gerade zeigt.
Diese kleine Geschichte kann uns zur Einladung für unsere Praxis werden: immer wieder die Denkmuster des Vergleichens und Bewertens aufzulösen und uns auf diesen Augenblick des Lebens, auf diese Meditation, diese Begegnung, dieses Gespräch, diese Geste einzulassen.
In diesem Augenblick ist alles vollkommen.