Jedes Gehen ein Kommen

von Paula Weber, Zen-Meisterin der Zen-Linie „Leere Wolke“ (W. Jäger)

Das Dielenbrett an der Schwelle zum Zendo am Sonnenhof: Beim Hineingehen ist es unvermeidlich, es zu betreten, es knarrt. Auch im Zendo ist es zu hören: Ah, da kommt jemand! Dieses herrliche Knarren! Wie ein Aufruf: Spür dich, wach auf, nehm wahr, wo du bist! Wie ein Hinweis: Ver-lass dich! Vertrau dich dem Boden an! Dabei können sich alle Poren, alle Sinne öffnen.

Wir sind es gewohnt, in einem Woher und Wohin zu denken, gehen von etwas weg und auf etwas zu, kommen heraus und gehen hinein. Wir sind es gewohnt, die Bewegung – die Leben immer ist – zu verankern in Raum und Zeit, wir wissen um die Sehnsucht nach einem Ankommen, verbinden damit Beständigkeit und Halt.

Dielen

Dieses leise Knarren der Diele gleicht einem Schlüssel. Es erinnert an das „Halt an, wo läufst du hin…“ von Angelus Silesius. Es ist ein Schlüssel zu dem, was wir uns auch im langsamen Kinhin „ergehen“ und zu dem, was uns von Willigis immer noch in den Ohren klingt: nur dieser eine Schritt! Dieser Schritt, dieses einzige Da. Jedes Gehen ein Kommen, gleichzeitig und untrennbar, jedes Da – unausweichlich eine Bewegung. Auftreten, abrollen – alle Sinne versammeln sich in den Füßen. Wenn der Ein-Atem wie vom Boden her aufsteigt und der Aus-Atem uns in die Welt hinein weitet, können wir dieses Nur-dies ahnen, das wir mit jedem Schritt vollziehen. Es ist das Leben selbst, das mich ganz auf diesen Schritt verweist, sich verdichtet. Meine eigene Lebenskraft gestaltet sich darin aus – in Resonanz zum Boden, zum Raum, zur Mitwelt.

 

Mein kleiner Enkelsohn kommt mir in den Sinn. Er folgt gerade der Aufrichtekraft seines kleinen Körpers und balanciert sich ins Stehen. Wackelig und federnd schwingt er sich auf dieses neue Lebensempfinden ein. In voller Konzentration vertraut er sich seinem Körper, den Beinen, Füßen und dem Boden an. Was da von sich heraus geschieht, betrachten wir mit Staunen. Als Eltern und Großeltern kennen wir den Impuls zu sagen: „Komm! Komm her!“, fast so als würden wir stellvertretend für die Welt zum Gehen und Entdecken einladen. Als würde dieser erste Schritt ein Ziel brauchen. Dieses Menschlein ist nicht auf ein „Komm“ ausgerichtet, sondern auf das Da!

„Halt an, wo läufst du hin…

(Angelus Silesius)

 

Es ist ganz in dem, was da geschieht. Es ist dieser erste Schritt, den es gar nicht kennt und doch einfach tut. Und gleichzeitig wird es sichtbar und erkannt.

 

In Kontakt zu sein mit dem Augenblick und unseren inneren Lebensimpulsen durch all unser Sein-Wollen, Erreichen-Wollen und Machen hindurch, in all unserem Weg und Hin braucht Besinnung und Sammlung. Manche Lebenssituationen können uns allerdings direkt aufrütteln. Wir sind dann wie „vor den Kopf gestoßen“, wissen oft erstmal nicht mehr weiter. „Ende der Fahnenstange!“ sagt der Volksmund. „Wie willst du von der Spitze einer hundert Fuß hohen Stange vorwärts gehen?“, heißt es in einer Zengeschichte. Allein schon bei dem Bild kann es uns „ganz anders“ werden. Wie kann ich das riskieren?

erste Schritte

Doch tun wir es nicht tagtäglich? Unwissend hinein in die Offenheit der Welt? Wir können diesen ersten Schritt ins Ungewisse, ins Leere wagen! Vielleicht wackelnd und unsicher. So wie mein Enkelsohn dem Hinein in den Augenblick traut. In einer anderen Geschichte sagt ein Meister: „Auch wenn einer sitzend auf einem hundert Fuß hohen Mast Erleuchtung erfahren hat, ist es noch nicht die vollständige Sache. Er muss von der Spitze des Mastes vorwärts gehen und seinen ganzen Körper in den zehn Richtungen des Weltalls deutlich zeigen.“ Die Freiheit auf der Spitze, das scheinbare Ankommen ist kein Ort der Bleibe. Es gilt, der Bewegung des Lebens zu folgen! In diesem Augenblick verdichtet sich Leben ins Tun, in die nächste Form.

Wenn mein Enkelsohn die Hand loslässt, wird er sichtbar als Auf- und Ausgerichteter. Und so werden auch wir sichtbar in und für die Welt, unvermeidlich sind wir Wahrgenommene und zugleich Wahrnehmende.

Alles Sein eröffnet sich! Das braucht unseren Mut zum Wagnis, ganz alltäglich in der Welt zu sein. Unser Gewahrsein darin ist weder froh noch traurig.  Es heißt: „Diese Bewusstheit ist nicht schwer zu erreichen und unmöglich zu vermeiden.“ Immer wieder können wir fragen: Wie geht das? Und wir erfahren: Es gibt keine Anleitung. Wir sind Vollzug in jedem neuen Schritt.

 

In den ersten Jahrhunderten nach Buddhas Tod gibt es keine andere figürliche Darstellung seiner Existenz als den symbolischen Fußabdruck. Dieser eine Augenblick, Ausdruck des Lebens! Oder wie es in Hermann Hesses berühmtem Gedicht „Stufen“ heißt: „Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen.“

Autorinnengespräch

Das Autorinnengespräch mit Paula Weber findet am Dienstag,
26. September, um 19:30 Uhr statt – online & kostenfrei via Zoom.

Zum spirituellen Impulsbeitrag gibt es das „Autorinnengespräch“, ein Format, in dem sich interessierte Leser*innen und Kursteilnehmer*innen des Benediktushof zusammen finden, um gemeinsam mit dem Autor/der Autorin über den Impuls zu reflektieren.  Der gemeinsame Austausch kann eine sinnvolle und hilfreiche Ergänzung zur eigenen spirituellen Praxis sein. Der Ablauf ist dabei stets: Vortrag – Austausch in Kleingruppen – Fragen & Antworten im Plenum. Das ganze findet kostenfrei, online via Zoom statt. Anmeldung über den Button unten (gleicher Link wie beim Online-Sitzen in Stille).

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