Ganz im Sein und Tun: ein spirituelles Leben zwischen Kloster und Praxis am Benediktushof
Schwester Leandra Ulsamer, Franziskanerin im Kloster Oberzell, war lange Jahre Weggefährtin und Schülerin von Willigis Jäger: An ihren freien Samstagen kam die Ordensschwester jede Woche zur kontemplativen Praxis an den Benediktushof.
Die Ordensschwester Leandra Ulsamer war über Jahrzehnte eine Weggefährtin und Schülerin von Willigis Jäger. Zu seinem 100. Geburtstag erinnert sich die heute 92-Jährige Franziskanerin an die Begegnungen. Eine Gemeinsamkeit der beiden, die sofort spürbar wird – ihr unaufgeregtes und pragmatisches Verständnis von Spiritualität.
Es ist ein kalter, sonniger Wintertag: Ich bin mit Schwester Leandra im Kloster Oberzell verabredet. Die Anlage im kleinen Örtchen Zell am Main, vor den Toren Würzburgs, rund 20 Kilometer vom Benediktushof entfernt, ist weitläufig, die beiden freundlichen Schwestern an der Klosterpforte erklären mir den Weg zum benachbarten Antoniushaus, in dem Schwester Leandra seit vier Jahren lebt. Der Weg führt durch einen langen, schmalen Tunnel unter der vielbefahrenen Hauptstraße und durch mehrere Türen hindurch, schließlich erreiche ich ein lichtdurchflutetes Entree.
Ich weiß sofort, dass ich richtig bin: Schwester Leandra wartet schon auf mich. In sich ruhend blickt sie mir entgegen. Das Gesicht der inzwischen 92-jährigen Ordensschwester ist freundlich und zeigt eine unaufgeregte Klarheit. Viel weiß ich bis dato nicht von ihr, kenne sie bisher eher vom Hörensagen als persönlich:

Sie ist eine der langjährigen Wegbegleiterinnen von Willigis Jäger, die ihn schon aus seiner aktiven Zeit im Haus St. Benedikt in Würzburg kannten. Als ich 2009 die ersten Kurse am Benediktushof besuchte, fielen mir unter anderem die liebevoll handgeschriebenen Namenskärtchen auf, die den Teilnehmern im Kursraum ihre Matten zuwiesen. Schwester Leandra war es, die damals diese Kärtchen geduldig und vor allem sehr akkurat beschriftete. Des Öfteren traf man sie samstags am Empfang sitzend und schreibend, tief versunken in ihrem Tun. Deutschlandweit bekannt wurde sie mit ihrem Heilkräutergarten im Kloster Oberzell, den sie viele Jahre kultivierte und pflegte, inzwischen aber in neue, jüngere Hände gegeben hat.
Die Spiritualität im ganz Alltäglichen
Anlässlich Willigis‘ 100. Geburtstag möchte ich mit ihr über die gemeinsame Zeit sprechen und habe mir dazu im Vorfeld viele Fragen in meinem Block notiert: Was hat sie als Ordensschwester an Willigis Spiritualität angesprochen? Welche Rolle spielte Willigis Konflikt mit der Kirche für sie? Was machte ihren Austausch aus?
Um es vorweg zu nehmen: Es ergeht mir mit Schwester Leandra ähnlich wie damals in meinen Einzelgesprächen mit Willigis, es kommen weniger die tiefgründigen spirituellen Themen zur Sprache, vielmehr geht es um ganz Alltägliches: Ihre Aufgaben im Kloster, wie sie sich über die Jahre den Freiraum und die Möglichkeit zur kontemplativen Praxis bei Willigis gestaltete, wie wichtig ihr noch heute eine feste Tagesstruktur ist und wie sehr sie die Zeit in Stille genießt. Ihre Antworten sind unaufgeregt, kurz, prägnant. Dabei spürt man ihre große Präsenz, auch geistig, nur ihr Gehör lässt sie bisweilen etwas im Stich, so dass ich schnell bemüht bin, auch meine Fragen zu präzisieren.
„Ich bin etwas früher zu unserem Treffpunkt gekommen und habe die 30 Minuten genutzt zur Meditation“
(Sr. Leandra)
Unaufgeregt, pragmatisch – das scheint auch ihr Verständnis von Spiritualität auszumachen. Erzählt Schwester Leandra von den Begegnungen mit Willigis, werden seine Person und seine zupackende, mitreißende Art im Raum sofort spürbar. Und immer wieder geht ein Lächeln über ihr Gesicht, sobald das Gespräch auf Willigis kommt. Ihre erste Begegnung liegt über drei Jahrzehnte zurück: Willigis hielt einen Vortrag in Wipfeld, wo sie damals noch als Ordensschwester und Erzieherin tätig war. Als sie Ende der 1980er wieder nach Würzburg, ins Kloster Oberzell zurückkehrte, war sie fortan regelmäßig im Haus St. Benedikt zu Gast und praktizierte bei Willigis Kontemplation: „Er hat mir diesen Weg nahegelegt“.
Stille und Meditation sind ihr auch im hohen Alter wichtig
Dass es für sie als Ordensschwester nicht immer einfach war, Zeit und Gelegenheit für ihr Interesse an der Mystik zu finden, glaube ich zwischen den Zeilen herauszuhören: In einem Nebensatz erwähnt sie, dass sie gerne ein Jahr Auszeit vom Kloster genommen hätte, um sich ganz der kontemplativen Praxis zu widmen. Als das nicht umsetzbar war, habe ihr Willigis kurzerhand vorgeschlagen, ihren wöchentlich freien Tag dafür zu nutzen. Durch ihre Mitarbeit im Haus St. Benedikt in Würzburg und später am Benediktushof habe sie sich die Kurse finanziert. Wie haben ihre Mitschwestern auf ihre Hingabe zur Mystik und ihre spirituelle Praxis reagiert? Immerhin forderte Willigis die katholische Kirche immer wieder mit seiner Kritik heraus und wurde schließlich mit einem Redeverbot aus Rom belegt. „Sie haben es irgendwann hingenommen“, meint sie lächelnd.
Angesprochen auf den Austausch mit Willigis, bleibt sie erneut sehr pragmatisch: „Er hat mich im Gespräch immer wieder in meiner Praxis ermutigt“. Was für sie die Mystik und Spiritualität bedeutet, wird immer wieder an kleinen Details deutlich, wenn sie aus ihrem Alltag erzählt: Am liebsten sei ihr die Stille, gleichzeitig nimmt sie auch im hohen Alter noch immer aktiv am klösterlichen Miteinander teil. Geregelte Abläufe und Verbindlichkeit (die in der Beliebigkeit unserer heutigen Zeit so wohltuend auffällt) scheinen ihr wichtig zu sein: Gleich zu Beginn umreißt sie klar und freundlich den zeitlichen Rahmen unseres Treffens, danach stünden Arztbesuch, Andacht, das gemeinsame Essen mit den Mitschwestern auf dem Tagesplan. Auch das Sitzen in Stille ist nach wie vor ein selbstverständlicher Bestandteil ihres Tages: „Ich bin etwas früher zu unserem Treffpunkt gekommen und habe die 30 Minuten genutzt zur Meditation.“

Zum Abschluss unserer gemeinsamen halben Stunde lade ich Schwester Leandra zur Gedenkfeier zu Willigis‘ 100. Geburtstag ein. Die Freude und das Interesse sind ihr anzumerken. (Wegen eines anderen Termins kann sie schließlich leider nicht teilnehmen). Beim Weg zurück über das Klostergelände sortiere ich mich und meine Gedanken: Das Gespräch mit Schwester Leandra hat mich beeindruckt und berührt, vor allem weil mir die Ordensschwester mit ihrer Präsenz, ihrer Klarheit und ihrem Tun so viel mehr über Willigis und ihr Verständnis von Spiritualität nahegebracht hat, als es mit Worten möglich gewesen wäre.
von Barbara Simon