„Willigis war ein prägender Mensch für mich“
Die beiden Benediktiner Jakobus Geiger und Willigis Jäger verbinden einige Gemeinsamkeiten – unter anderem die Klostergemeinschaft der Abtei Münsterschwarzach. Seit Anfang der 1990er-Jahre kreuzten sich ihre Wege immer wieder, besonders an ein Gespräch denkt Bruder Jakobus bis heute mit großer Dankbarkeit.
Von Barbara Simon (Öffentlichkeitsarbeit am Benediktkushof)
Für unser Gespräch verabrede ich mich mit Bruder Jakobus Geiger am Empfang des Klosters Münsterschwarzach. Die Abtei liegt etwa 50 Kilometer vom Benediktushof entfernt, auf der anderen, östlichen Seite von Würzburg. Das Benediktinerkloster war nicht nur die berufliche und geistliche Heimat von Willigis Jäger, vielmehr liegt hier auf dem Friedhof auch seine letzte Ruhestätte.
Trotz seiner Differenzen mit der katholischen Kirche blieb er ein Leben lang dem Orden tief verbunden und wurde auf seinen Wunsch im März 2020 im Kreise seiner Brüder bestattet. Und so werden Bruder Jakobus und ich unser Gespräch am Ende mit einem Besuch an Willigis‘ Grab abschließen.

Zwei Benediktiner, zwei Generationen, viele Gemeinsamkeiten
Es ist mehr als dieser Ort, der Jakobus Geiger und Willigis Jäger trotz einem Altersunterschied von 30 Jahren verbindet: Als Benediktiner sind beide in der Abtei Münsterschwarzach beruflich und geistlich-religiös verortet, über Jahrzehnte begegneten sie sich hier bei verschiedensten Gelegenheiten immer wieder und kamen ins Gespräch: „Willigis war ein prägender Mann auf meinem Weg, aber er war auch persönlich sehr beeindruckend. Ein kleiner, sportlicher, drahtiger Mann“, erzählt Jakobus Geiger.
„Ich erinnere mich, wie wir im Garten von St. Benedikt zusammensaßen und er aus seiner Biografie erzählte, von seinen Kriegserlebnissen oder wie er als Jugendlicher während des Nationalsozialismus unter großem persönlichem Einsatz mit dem Fahrrad die Hirtenbriefe der Kirche in Unterfranken verteilt hat“.
Auch ihre spirituelle Biografie und Suche liest sich erstmal ähnlich: Beide sind geprägt von einer tiefen spirituellen Erfahrung, beide sammelten bei Auslandsaufenthalten Erkenntnisse in verschiedenen mystischen Traditionen, beide waren unter anderem in Japan, beide beschäftigen sich gleichwohl mit Kontemplation und Zen, für beide ist das Interesse an den im Westen und Osten verankerten spirituellen Weisheitslehren kein Widerspruch. Und es gibt darüber hinaus eine biografische Gemeinsamkeit: beide waren in den Jahren 1993 bis 1996 gemeinsam im Haus St. Benedikt in Würzburg tätig, Jakobus Geiger als organisatorischer Leiter, Willigis Jäger als spiritueller Leiter.
„Willigis hörte es sich an und meinte ganz schlicht: Genau, das ist es!“
Jakobus Geiger
Nach der gemeinsamen Zeit in St. Benedikt trennten sich die Wege
Im Gespräch zeigt sich dann nach und nach ein differenzierteres Bild des gemeinsamen Weges, aber auch der unterschiedlichen Persönlichkeiten: Willigis habe ich selbst als sehr quirlig in Erinnerung, in seinen Antworten meist sehr direkt, kurz und prägnant. Jakobus Geiger nimmt sich Zeit, er wirkt in sich ruhend und strahlt eine gewisse Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit aus, hört viel zu. Beiden merkt man ihre Zugewandtheit und ihr Wohlwollen für Menschen an, auch wenn beide eine sehr eigene Art haben, dass Menschen sich bei ihnen gut aufgehoben fühlen.
Die Unterschiede zeigten sich übrigens auch während und nach der gemeinsamen Zeit im Haus St. Benedikt: Die Auffassungen der beiden Leiter kollidierten immer wieder in organisatorischen Fragen, so dass sich Jakobus Geiger nach einer Sabbath-Zeit mit Aufenthalten in Japan und in den USA entschied die Zusammenarbeit zu beenden. Sein weiterer Weg führte ihn ins Würzburger Studienkolleg des Klosters. Zurück in Münsterschwarzach leitete er ab 2010 für 12 Jahre das Gästehaus. Inzwischen begleitet er Menschen in seinen Kontemplationskursen und hat unter anderem ein Buch über „Wege ins Schweigen“ geschrieben.
Die Differenzen seines Mitbruders mit der Glaubenskongregation in Rom verfolgte er aus der Ferne. Wie so oft in unserem Gespräch urteilt und bewertet er nicht, auch wenn klar wird, dass Willigis‘ oft konfrontativer Kurs gegenüber der katholischen Kirche nicht sein Weg gewesen wäre. Angesprochen auf Willigis‘ Verständnis von Transkonfessionalität und spiritueller Lehre äußert er sich zustimmend und sehr wertschätzend: „Ich habe ihn immer klar und präzise erlebt im Verständnis der verschiedenen Traditionen. Im Zen hat er unter anderem die komplette Koan-Schulung absolviert, gleichzeitig war er Kontemplationschüler“
„Endlich war da jemand, der die Erfahrung verstand“
Die vielleicht wichtigste Begegnung mit Willigis fand für ihn Anfang der 1990er-Jahre während eines Retreats am Sonnenhof statt (Anm. d. Red.: Der Sonnenhof ist ein Meditationshaus im Schwarzwald, das Willigis Jäger gemeinsam mit der Zen-Meisterin Joan Rieck in den 1980er-Jahren gründete): Auch über 40 Jahre später merkt man, wie wichtig und berührend das Gespräch für Jakobus Geiger gewesen sein muss.

Eine tiefe spirituelle Erfahrung hatte den damals jungen Mönch tief erschüttert und viele seiner Überzeugungen und Vorstellungen über den Haufen geworfen, wie er es beschreibt: „Im kirchlichen Umfeld habe ich niemanden gefunden, der mich unterstützen konnte, eine Sprache für diese Erfahrung zu finden und sie einzuordnen und zu integrieren.“ Diese Integration der Erfahrung beschreibt Jakobus Geiger als langen und schwierigen Prozess: Was bedeutet diese Erfahrung jetzt für mein Leben? Viele Überzeugungen stimmten plötzlich nicht mehr. Anderes, Neues erlebte er als zutiefst wahr: „Je tiefer die Erfahrung, desto schwerer ist sie in Worte zu fassen. Religionen können uns Sprachmodelle anbieten, diese sind aber abhängig von der jeweiligen Zeit und Kultur.“
Im Einzelgespräch erzählte er Willigis von seiner Erfahrung: „Willigis hörte es sich an und meinte ganz schlicht: Genau, das ist es!“ Endlich hatte er ein Gegenüber und einen Ansprechpartner gefunden, der es verstand, die Dimension hinter dem Gesagten zu begreifen und zu deuten: „Willigis hat mir sehr geholfen“, sagt er heute Jahrzehnte später. Für ihn war es ein bedeutender und wichtiger Initialimpuls, auch wenn ihn sein spiritueller Weg in andere, neue Richtungen führen sollte: „Willigis kam damals gerade aus Japan und so war auch seine Praxis und Lehre stark von der asiatischen Schule geprägt. Er hatte Hunderte von Schülern, die Gespräche waren deshalb oft kurz und es konnte auch passieren, dass man zwei Tage warten musste.“
Die Suche nach Frömmigkeit und einer für ihn passenden Sprache für das so schwer Fassbare scheint für Bruder Jakobus eines der zentralen Themen auf seinem spirituellen Weg – beides fand er für sich schließlich bei Franz Jalics, einem Jesuiten und Priester, der ab den 1980er Jahren vor allem in Deutschland und in der Schweiz Mediations- und Kontemplationskurse gab.
„Es kann hilfreich sein, Menschen zu treffen, die einem vermitteln, dass die Erfahrung möglich ist, jedem von uns“
Jakobus Geiger
Anderen Menschen auf dem spirituellen Weg das weitergeben, was er selbst erleben durfte
Wichtig war Jakobus Geiger auch eine Begleitung, die die Psyche mit einbezieht: „Wir Menschen sind eine Einheit: Und gerade in der Stille, wenn wir beispielsweise meditieren oder in der Natur sind, zeigt uns die Psyche oft unseren Schmerz. Das sind ungelebte oder wesensfremde Anteile in unserer Seele, die integriert werden wollen“, erklärt Jakobus Geiger. In der Praxis sind das Fragen wie: Was, wenn mich beispielsweise Wut, Trauer, Angst besetzt? Wie gehe ich über die Wahrnehmung hinaus damit um? Was ist wirklich gemeint mit „Loslassen“? Was heißt das ganz konkret, beispielsweise die Wut loszulassen?
Es ist spürbar, wie sehr der persönliche Prozess sein Verständnis von Spiritualität und spiritueller Begleitung geprägt haben. In seinen Kontemplations-Kursen möchte er Menschen einen Raum eröffnen und Nahrung für ihren persönlichen spirituellen Weg geben, so dass die Seele Heilung finden kann. Zum Beispiel durch die Erfahrung von Stille oder auch von Transzendenz.
Besonders wichtig ist ihm, das weiterzugeben, was er selbst erleben durfte: Begleitung, Einordnen, Integrieren: Was hat das zu bedeuten, wenn mir plötzlich in einem Moment die Tränen kommen oder mich ein Schauer überläuft? Wie kann ich Stille wahrnehmen und welche Qualitäten von Stille gibt es? Wie kann es sein, dass ich eine tiefe Stille im Raum erlebe, obwohl sich dauernd jemand räuspert? Wie fühlt sich das an, wenn ich Transzendenz erlebe? „Es kann einem niemand diese Erfahrung sprachlich und kognitiv vermitteln, das kann jeder nur selbst erfahren. Manchmal hilft es allerdings, Menschen zu treffen, die einem vermitteln, dass diese Erfahrung möglich ist, jedem von uns.“
Die großen Fragen des Lebens und eine Erdbeerpflanze an Willigis Grab
Was sind es für Menschen, die heute – in den 2020er Jahren – in seine Kurse kommen und was ist ihre Motivation? „Nur noch gut ein Viertel der Menschen ist an eine konfessionell geprägte Praxis rückgebunden. Meist ist es ein Bündel an Gründen, die sie in einen Kurs für Meditation, beziehungsweise christliche Kontemplation führen: Vordergründig ist es die Suche und Sehnsucht nach Sinn, oft auch etwas Unbestimmten, auf dem Weg zeigt sich dann oft, welche Probleme darunter versteckt liegen“.
Im weiteren Gespräch schweifen wir immer wieder ab und gehen in die Tiefe von Transzendenz, der unterschiedlichen Intensität von Erfahrung und Erkenntnis oder stellen die Frage der Non-Dualität in den Raum: Kann es in der menschlichen Wahrnehmung tatsächlich eine Einheitserfahrung mit dem Göttlichen geben oder bleibt das Göttliche stets ein Gegenüber?

Tatsächlich zeigen sich hier im Austausch immer wieder die Grenzen von Sprache und In-Sprache-fassen. Zumindest empfinde ich es so. Gleichzeitig erweist sich mein Gegenüber als sehr guter Zuhörer und Begleiter: Zu jedem Zeitpunkt vermittelt er das Gefühl, als spirituelle Suchender, beziehungsweise Suchende gesehen und wertgeschätzt zu sein.
Zum Abschluss des Gesprächs lädt mich Jakobus Geiger zu einem Rundgang durch die Abtei, in die Klosterkirche und zu Willigis‘ Grab auf dem Klosterfriedhof ein: ein schlichter, unauffälliger Stein in einer der vielen Grabreihen. Einziger Unterschied zu den Gräbern der Mitbrüder: Jemand scheint vor kurzem eine Blume abgelegt zu haben. „Und schauen Sie mal: Es wächst eine Erdbeerpflanze bei Willigis!“, meint Bruder Jakobus lächelnd.