Der unantastbare Wert der Würde
von Fernand Braun, Kontemplations-Lehrer der Linie „Wolke des Nichtwissens“, Mitglied der spirituellen Leitung am Benediktushof.
Wir leben in einer Welt, die nicht nur von Krisen, Unsicherheit und einem rasenden Tempo geprägt ist, sondern auch von gesellschaftlicher Spaltung, Rassismus und Armut. Der Mensch wird zunehmend zum Mittel für wirtschaftliche und politische Zwecke, oft überlagert von ständigem Vergleich, dem Drang zur Selbstoptimierung und gesellschaftlichem Druck. In der Arbeitswelt wird der einzelne häufig nur nach seiner Produktivität und Effizienz bewertet, während sich Menschen in den sozialen Medien konstant an unrealistischen Idealen messen und sich selbst als „besser“ optimieren wollen. Der Druck, immer erfolgreicher, schöner oder fitter zu werden, führt zu einer Entfremdung von der eigenen Identität und einer permanenten Unsicherheit, ob man den gesellschaftlichen Erwartungen wirklich entspricht.

Es ist unsere Aufgabe, uns selbst als würdig anzuerkennen
All dies untergräbt die Würde des Menschen. Doch wie können wir die Würde, die die Grundlage unseres Menschseins ausmacht, inmitten all dieses Chaos‘ bewahren?
Der Philosoph Immanuel Kant beschrieb die Würde als unantastbar – unabhängig von Leistung, Status oder Herkunft. Würde ist kein äußeres Attribut, das man sich verdienen muss. Sie ist der „innerste Wert“, der jedem Menschen von Natur aus zukommt. Gerade deshalb ist es eine spirituelle und ethische Aufgabe, sich selbst als würdig anzuerkennen. Diese Würde anzuerkennen bedeutet, sich selbst als Teil des Ganzen zu sehen und die eigene Existenz als bedeutsam und heilig zu erleben – unabhängig davon, ob man sich gerade „gut“ oder erfolgreich fühlt.
Wenn ich meine Würde annehme, beginne ich, aus einem Gefühl der Fülle und der Verbundenheit heraus zu leben – statt aus Mangel, Angst oder Selbstablehnung.
Der englische Schriftsteller Charles Reade brachte es auf den Punkt: „Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte… dein Schicksal.“
Unsere Haltung beginnt im Inneren. Wie wir über uns selbst und andere denken, prägt unser Verhalten und schließlich unseren Charakter. Wer sich seiner Würde bewusst ist, wird dies auch im Alltag leben – in Taten, Worten und Entscheidungen.
Wer sich selbst wertlos empfindet, neigt dazu, den eigenen inneren Schmerz nach außen zu tragen – durch Härte oder Gleichgültigkeit gegenüber anderen. Wer sich dagegen selbst mit Mitgefühl, Respekt und Klarheit begegnet, wird eher bereit sein, auch andere in ihrer Würde zu sehen – selbst, wenn sie Fehler machen oder anders sind – einfach aus einem inneren Verständnis von Gemeinsamkeit und Verbundenheit heraus.
Sich als würdig anzuerkennen, bedeutet auch, sich mit den eigenen Schatten, Schwächen und Verletzungen auseinanderzusetzen – und dennoch „Ja“ zu sich selbst zu sagen. Das hat nichts mit Selbstverliebtheit oder Selbstgenügsamkeit zu tun, sondern es bedeutet einen respektvollen und liebevollen Umgang mit den eigenen Unvollkommenheiten.
„Achte auf deine Gedanken,
denn sie werden Worte.
Achte auf deine Worte,
denn sie werden Handlungen.
Achte auf deine Handlungen,
denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten,
denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter,
denn er wird dein Schicksal“
(Charles Reade)
Menschenwürde zeigt sich auch im ganz Alltäglichen
Würde endet nicht beim Menschen. Auch Tiere, Pflanzen und die Erde selbst haben einen Eigenwert. Eine alte Eiche, ein Wolf, der Fluss – ja, die ganze Schöpfung verdient unsere Achtung. Alles, was lebt, will geachtet werden. Viele indigene und spirituelle Traditionen sehen den Menschen nicht als Herrscher über, sondern als Teil der Natur. Franz von Assisi sprach von „Bruder Sonne“ und „Schwester Mond“, weil er die gesamte Schöpfung als Familie verstand – verbunden durch den einen „göttlichen Atem“.
Diese Sichtweise lädt nicht zur Ausbeutung ein, sondern fördert Respekt, Dankbarkeit und ein neues Verantwortungsbewusstsein gegenüber unserer Umwelt. Der Mensch ist nicht Herrscher, sondern Hüter des Lebens.
Wenn wir erkennen, dass Würde Ausdruck des Lebens selbst ist, dann entsteht ein tiefes Verantwortungsgefühl gegenüber allem, was lebt – auch sich selbst gegenüber. Verletzen wir die Würde eines anderen, handeln wir gegen das, was uns selbst zum Menschen macht: unsere Fähigkeit zu Mitgefühl, Achtung und moralischer Verantwortung. Wer anderen die Würde abspricht, entfernt sich von der eigenen.

Würde zeigt sich nicht nur in großen Gesten, sondern in kleinen, alltäglichen Momenten: im Zuhören, im Respekt, im achtsamen Umgang. Wer sich nicht ständig antreiben lässt, sondern seine Grenzen achtet, schützt seine eigene Würde. Dazu braucht es Mut, aber genau darin liegt wahre Stärke.
Würde ist mehr als ein ethischer Grundsatz – sie ist ein spiritueller Kompass. In ihr liegt die Kraft, trotz aller Umbrüche Menschlichkeit, Verbundenheit und Verantwortung zu bewahren. Sie beginnt in uns selbst, wirkt durch unser Denken und Handeln – und kann die Welt verändern. Jeden Tag aufs Neue.
Das Autorengespräch mit Fernand Braun findet am Dienstag, 3. Juni um 19.30 Uhr statt – online & kostenfrei via Zoom.
